Abgründiges

Hängt da nicht ein unaufhaltsamer Prozess fortschreitender Spreizung dieser sozialrelevanten Kluft als unheilverheißendes Menetekel über unserer Gesellschaftsordnung? Hat sich die Entwicklung der „Märkte“ nicht längst unwiderruflich und in ihrem ganzen Ausmaß kaum wahrgenommen, bereits in historischen Zeiten verselbständigt und dem Einfluss der Politik entzogen? Welche Mächte beherrschen und manipulieren ebenso insgeheim wie nachhaltig längst unsere Regierungen? Und wie hat das Sedativum „Wohlstand für alle“ es in unserer Gesellschaft fertig gebracht, dass der Jugend in ihrer Mehrheit „Lehre“ nicht schmeckt? Auch hier Fragen über Fragen; schwer-gewichtig und ohne schlüssige, weiterhelfende Antworten. Da regt sich der Verdacht, dass alle diese fatalen Fehlentwicklungen die unausbleibliche Folge eines einmal beschrittenen Weges sind. Denn nichts geschieht ohne Notwendigkeit. Es sei denn aus Zufall, den ich in diesem Konzext ausschließen möchte. Als trostspendende Kompensation für aufkeimende Ohnmachtsgefühle darf sich der überforderte Zeitgenosse, unentrinnbar im System eingezwängt, in Events aller Art, in Esoterik und Konsum Ersatz und Zerstreuung suchen.

  Als erstaunlich vermerkt der interessierte Beobachter, dass die statistischen Belege mit ihren zeitnahen Aufarbeitungen in Sachen zunehmend beschleunigter Umverteilung des Volksvermögens anscheinend nur akademisches Interesse zu wecken vermögen, obwohl das bereits erreichte Ausmaß erschrecken müsste. Eine ungeheure Geldschwemme überflutet die „Märkte“, deren Profiteure, die in einer geradezu extra-terristrischen Abgeschiedenheit vom gelebten Dasein des erdnahen Menschentums, nicht mehr wissen, wohin mit dem ganzen Segen. Die Resteverwertung der Hinterlassenschaften dieser selstzerstörerischen Verfahrensweisen wird der treudoofe Staatsbürger letztendlich alleine besorgen müssen. Irgendwann.

  Aufgeblähte Immobilienblasen, irreal überbewertete Aktien und Derivate, vermögenschluckende Steueroasen, bankrotte Staatsfinanzen, untilgbare Schuldenberge, völlig aus den Fugen geratene Gesellschaftsstrukturen, Armut, korrupte Verwaltungen und abhängige Politiker, sie alle sind sichtbare Exponenten einer dekadierenden Zivilisation, die die Kontrolle über ihr eigenes Geschick der Gier, dem ideologischen und religiösen Wahn geopfert hat.

   Wer viel hat, will mehr. Wachstum, Wachstum, Wachstum! Das Mantra der Kanzlerin als allgegenwärtiger Handlungsgrundsatz unseres Gesellschaftswesens erweist sich als ebenso unausrottbar wie bar jeder Vernunft. Galt nicht seit unvordenklicher Zeit als Leitsatz der sokratischen Denkschule die bewusste Einschränkung persönlichen Wunschdenkens und die Ächtung rücksichtslosen Auslebens eigenen Wollens als höchste Weisheit und Schlüssel zur Vermeidung folgerechter Leiderfahrungen? Viele alte Meisterwerke übermitteln uns, mit der Leuchtkraft tiefer, unverletzlicher Ruhe eines gefundenen Friedens, den gelungenen Vollzug eines verinnerlichten Wissens als Lebenserfahrung jenseits jeglicher Vernunft. Das Leben selbst ignoriert den Tod des Individuums und existiert unbeeindruckt in dessen Nachkommen weiter. Doch warum fahren wir trotz besseren Wissens unentwegt fort, ohne umzukehren?

  Übelkeit regt sich im Gedärm, und schwindelig wähne ich mich am Rande einer Felsenklamm stehend und starre hinab in den furchterregenden Höllenschlund. Aber ich stehe dort nicht allein. Ich erkenne die Gesichter von Menschen um mich herum, die mir zeitlebens irgendwann irgendwo begegnet sind, mich begleitet und wieder verlassen haben; daneben ein unübersehbares Gedränge, alle miteinander in ihren Bewegungen scheinbar instinktiv vor der drohenden Gefahr zurückschreckend. Dennoch verbleiben sie, sich aneinander klammernd, allesamt aus unbegreiflichen Gründen am Ort der Gefahr. Konsterniert betrachte ich das gespenstische Inferno, spüre die Kälte der Verlassenheit.

  Alsbald vereinigen sich Angst, Übelkeit und Schwindel, als amorphes, bedrohliches Nebelphantom, in die nächtliche Finsternis aufsteigend, danach mit seiner ganzen grausigen Unfassbarkeit die dort Verharrenden in ihrer kollektiven Hilflosigkeit schaudern lassend: Eine sich unsere Ängstigung zunutze machende Vorstellung, die uns mit der Chimäre eines gemeinsamen Absturzes mit wollüstiger Todessehnsucht zu peinigen versteht.

 

  Traulich und treu ist's nur in der Tiefe:

  falsch und feig ist, was dort oben sich freut!

Klage der Rheintöchter

 Wagner, Das Rheingold, 4. Szene

 

  Ist es gar unser Verstand, der mit einem Warnsignal vor dem Grauen des Unvermeidbaren, gerade jene mysteriöse Leidenschaft anstachelt, uns dennoch hinab zu stürzen? Es bedürfte nun irgend einer verzweifelten, intuitiven Spontanreaktion oder der hilfreichen Hand eines Freundes, uns aus dieser Lage zu befreien und dem sicheren Desaster zu entreißen. Doch was wäre das für eine Ratio, die uns in ihrer Perversion dazu nötigt, gerade entgegengesetzt zu reagieren, wie sie uns das befiehlt?

12. September 2016