Ausgesungen?

  Wer gegen Ende eines langen Lebens einen Rückblick wagt, greift gerne einmal hinein in das große Schatzkästlein unserer Heimatliteratur. Insbesonders dann, wenn sich das eigene gelebte Umfeld geradezu ekstatisch bemüht, sich der eigenen nationalen Vergangenheit zu verweigern. Gerade in einer Zeit, die nicht umhin zu können glaubt, sich in der rigorosen Abschaffung ihrer kulturellen Idendität ständig selbst zu übertreffen, bereitet es nicht nur die reine Freude in den Schriften meines geliebten Heimatpoeten und Frankfurter Patrioten Friedrich Stoltze zu stöbern, sondern es wird mir dabei schmerzlich bewusst, was uns da als „Volk“ so nach und nach verloren zu gehen droht.

  Wer gegen Ende eines langen Lebens einen Rückblick wagt, greift gerne einmal hinein in das große Schatzkästlein unserer Heimatliteratur. Insbesonders dann, wenn sich das eigene gelebte Umfeld geradezu ekstatisch bemüht, sich der eigenen nationalen Vergangenheit zu verweigern. Gerade in einer Zeit, die nicht umhin zu können glaubt, sich in der rigorosen Abschaffung ihrer kulturellen Idendität ständig selbst zu übertreffen, bereitet es nicht nur die reine Freude in den Schriften meines geliebten Heimatpoeten und Frankfurter Patrioten Friedrich Stoltze zu stöbern, sondern es wird mir dabei schmerzlich bewusst, was uns da als „Volk“ so nach und nach verloren zu gehen droht.

 

                                          Von Freiheit muss ich immer singen,

                                          So lang mein Herz noch fühlt und lebt;

                                          Nach Freiheit, Freiheit muss ich ringen,

                                          So lange, bis man mich begräbt.

 

  Was war es, das viele Menschen damals so stark bewegte, sich für ein Ideal bis zur Selbstaufgabe einzusetzen in einer Zeit, als die demokratische Selbstbestimmung noch ein Wunschtraum realitätsferner Idealisten in einer Welt voller Mühen und Plagen war.

 

                                          Im Leben hatte ich der Schmerzen,

                                          Der Pein, der Sorge so vollauf;

                                          Der Tod nimmt mir den Stein vom Herzen,

                                          O, wälzt mir keinen neuen drauf!

 

  Es mutet wie eine Ironie des Schicksals an, dass heute Menschen, seit mehreren Generationen in einer „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ beheimatet, sich nicht nur freiwillig ihrer Privatsphäre entledigen, sondern auch ihrer politischen Selbstbestimmung lustvoll entsagen zugunsten einer multikulturellen Anonymität. Was mochte wohl damals einen Friedrich Stoltze und andere bewegt haben?

 

                                          Und wenn die Siegeshörner blasen,

                                          Und glüht der Völker Morgenrot,

                                          Heb’ ich hinweg den leichten Rasen

                                          Und rufe „Freiheit!“ noch im Tod.

 

 Was war geschehen? Die Geschichte, von der ich berichten will, entstand schon eine ganze Weile früher mit der romantischen, vaterländisch ausgerichteten und streitbaren Seelenverfassung jener Generationen, die sich in einem Deutschland verloren fühlten, das auch nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon, in viele Einzelstaaten zerteilt, nicht zu einer Einheit in Freiheit zusammenfinden konnte. Ihnen entsprach die leidenschaftliche und gefühlstiefe Lyrik eines Theodor Körner (1791-1813), dessen früher Tod auf dem Schlachtfeld als Lützower Jäger ihn wegen seiner glaubhaften Übereinstimmung von Dichtung und Leben zum vorbildhaften Figur prädestinierte und seine Werke sich für die Lehrpläne ganzer Generationen in idealer Weise anboten.

 

Schönes Bild von alter deutscher Treue,

                                           Wie sie besss’re Zeiten angeschaut,

                                           Wo in freudig kühner Todesweihe

                                           Bürger ihre Staaten festgebaut. -

                                           Ach was hilft’s, dass ich den Schmerz erneue?

                                           Sind doch alle diesem Schmerz vertraut!

                                           Deutsches Volk, du herrlichstes vor allen,

                                           Deine Eichen stehn, du bist gefallen!

 

  Die Geschichte setzt sich fort mit dem 1812 geborenen Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Der 1835 zum ordentliche Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universitätsbibliothek Breslau Berufene wurde wegen seiner liberalen Haltung und seiner Parteinahme für ein einheitliches Deutschland 1842 von der preußischen Regierung pensionslos seiner Professur enthoben und mit der Bezichtigung, politisch anstößige Grundsätze und Tendenzen in seinen Schriften zu verbreiten und ein Jahr darauf mit dem Verlust der preußischen Staatsbürgerschaft und Landesverweis gemaßregelt. Der im Exil herumirrende wird schließlich von politisch Gleichgesinnten aufgenommen. Zwar nimmt er an der Märzrevolution von 1848 nicht aktiv teil, wurde aber dank eines Amnestiegesetzes rehabilitiert und bekommt ein Wartegeld innerhalb Preußens Grenze ausbezahlt; seine Professur verweigert man ihm dennoch.

  Von seiner Feder erscheinen 1840 und 1841 zwei Gedichtbände mit insgesamt 290 Gedichten unter dem Titel „Unpolitische Lieder“ in einer Auflage von 12 000 Exemplaren und einer regen Nachfrage. Während eines Aufenthalts auf der damals englischen Badeinsel Helgoland entstand am 26. August 1841 das „Lied der Deutschen“.

  Als Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland von seinem Hamburger Verleger Julius Campe besucht wurde, der ihm das Lied abkaufte, berichtet er darüber:

  „Am 28. August kommt Campe mit dem Stuttgarter Buchhändler Paul Neff. Er bringt mir das

erste fertige Exemplar des zweiten Theils der »Unpolitischen Lieder«.  „Am 29. August spaziere ich mit Campe am Strande. ‚Ich habe ein Lied gemacht, das kostet aber 4 Louisd’or.‘ Wir gehen in das Erholungszimmer. Ich lese ihm: ‚Deutschland, Deutschland über Alles‘, und noch ehe ich damit zu Ende bin, legt er mir 4 Louisd’or auf meine Brieftasche.

 Neff steht dabei, verwundert über seinen großen Collegen. Wir berathschlagen, in welcher Art das Lied am besten zu veröffentlichen ist. Campe schmunzelt: ‚Wenn es einschlägt, so kann es ein Rheinlied werden. Erhalten Sie drei Becher, muß mir Einer zukommen.‘ Ich schreibe es unter dem Lärm der jämmerlichsten Tanzmusik ab, Campe steckt es ein, und wir scheiden.“

  „Am 4. September bringt mir Campe das Lied der Deutschen mit der Haydn’schen Melodie in Noten, zugleich mein Bildniß, gezeichnet von C. A. Lill.

  Ab dem 3. Oktober 1841 hielt sich der liberale badische Politiker Karl Theodor Welcker in Streit’s Hotel am Jungfernstieg in Hamburg auf. Am 5. Oktober „abends 10 ½“ wurde ihm „ein Ständchen gebracht“. Im Beisein Hoffmanns sangen Mitglieder der Hamburger Liedertafel und der Hamburger Turnerschaft von 1816 „bei Fackelschein und mit Hornmusik“ des Hamburger Bürgermilitärs vor dem Hotel erstmals öffentlich „Deutschland, Deutschland über alles“. Der Schweizer François Wille (1811–1896) brachte ein Hoch auf Welcker aus. Zum Schluss sang man Hoffmanns „Deutsche Worte hör’ ich wieder“ (Rückkehr aus Frankreich) und Karl Follens Bundeslied „Brause, du Freiheitssang“, begrüßte Welcker und überreichte ihm das „Lied der Deutschen“.

  Im folgenden Jahr nahm Hoffmann den Liedtext in seinen Band Deutsche Lieder aus der Schweiz auf. Obwohl Campe im Erstdruck den Hinweis „Text Eigentum des Verlegers“ angebracht hatte, wurde das Lied mangels damaliger Rechtsverbindlichkeit bald nachgedruckt und fand seinen Weg in zahlreiche Kommers- und andere Liederbücher. In seiner Entstehungszeit war das Lied wenig beachtet, und zwar weil erstens mit der Beilegung der Orientkrise im Sommer 1841 die Kriegsgefahr gebannt war und zweitens das Lied nicht wie das Rheinlied ein Kampflied war, sondern mehr besinnlich als kriegerisch wirkte.

  Der konkrete Anlass für Hoffmann, das Lied zu verfassen, waren französische Gebietsansprüche auf das Rheinland in der Rheinkrise. Diese Ansprüche wies er mit dem Lied zurück, wie es auch mit anderen deutschen Rheinliedern dieser Zeit geschah. Er ergänzte dies mit weiteren Gedanken, vor allem mit dem der deutschen Einigkeit, die allein die Voraussetzung für Abwehr feindlicher Angriffe jeder Größenordnung bieten könne (erste Strophe). Der Dichter schuf sein Werk ausdrücklich zur Melodie des älteren Liedes Gott erhalte Franz, den Kaiser von Joseph Haydn (1797) und nahm damit Bezug zum früheren Heiligen Römischen Reich deutscher Nation.

                                                 Deutschland, Deutschland über alles,
                                                 Über alles in der Welt!
                                                 Wenn es stets zu Schutz und Trutze
                                                 Brüderlich zusammenhält,
                                                 Von der Maas bis an die Memel,
                                                 Von der Etsch bis an den Belt –
                                                 Deutschland, Deutschlan
d über alles,

                                                 Über alles in der Welt!

 

  Im Entstehungsjahr dieses Liedes gab es zwar kein geeintes Deutschland, dafür aber einen Deutschen Bund. Dieser war ein Staatenbund, aber kein Nationalstaat. Die Grenzen, die in der ersten Strophe beschrieben werden, sind die Grenzen dieses Deutschen Bundes. 1815 gegründet von den souveränen Fürsten und freien Städten Deutschlands als ein Bestandteil einer neuen europäischen Friedensordnung - ohne Staatsgewalt. Eingeschlossen waren auch der Kaiser von Österreich und die Könige von Preußen, Dänemark und der Niederlande, ausschließlich nur mit ihren Besitzungen, die vormals dem 1806 aufgelösten heiligen Römischen Reich angehörten. Ein verwirrendes Machtkonglomerat, das die alten monarchischen Herrschaftsverhältnisse gegen den bürgerlichen Widerstand restaurieren wollte. Um eine Einigung dieser Fürstentümer zu einem von der Nation getragenen und damit vom deutschen Volk mitgestalteten Staatswesen wurde, wie es das Lied Hoffmanns belegt, 1841 leidenschaftlich gerungen. 1848/49 scheiterte der Versuch, ihn zu verwirklichen, in einer niedergeschlagenen Revolution. Die Farben dieser Revolution waren übrigens schwarz-rot-gold und aus der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon übernommen.

 

   In den „Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages“ findet man eine folgende Bewertung:

  »Der Anfang der ersten Strophe 'Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt' war für Hoffmann keine imperiale Aufforderung zur Unterwerfung nichtdeutscher Gebiete, sondern ein patriotisches Bekenntnis zur Überwindung der als zu partikularistisch empfundenen rechtlichen Struktur und politischen Gestalt des Deutschen Bundes. Mit diesem – später oft tendenziös mißverstandenen – Liedbeginn wollte der Verfasser gefühlsmäßig ausdrücken, daß er eine Vereinigung der deutschen Einzelstaaten und damit die Einheit Deutschlands 'über alles in der Welt' wünschte. Nicht geographische Expansion, sondern eine gesamtdeutsche Konstitution war sein politisches Anliegen.«

  Was es mit den tendeziösen Missverständnissen auf sich hat, zeigen andere Meinungen. Kurt Tucholsky äußerte sich so:

 »'Deutschland über alles', ein törichter Vers eines großmäuligen Gedichts. Nein, Deutschland steht nicht über allem und ist nicht über allem – niemals. Aber mit allen soll es sein, unser Land.«

  Walter Jens, in: Die Zeit, Nr. 39, 1986

  »Deutschland, Deutschland über alles: Das kann, wie die Forschung längst bewiesen hat, nichts anderes heißen als: Deutschland ist mehr, ist größer, ist mächtiger als alles, sofern es seine politische Einheit gewinnt.«.

 

  Es ist nicht zu übersehen, dass im Liedtext „Deutschland, Deutschland über alles, / Über alles in der Welt!“ ein Verb als Satzaussage fehlt. Naheliegend erscheint, da ein „steht“ zu ergänzen – und das gäbe dem Text jenen arroganten, überheblichen Charakter. Man darf getrost voraussetzen, dass der approbierte Literat Hoffmann von Fallersleben seine Muttersprache nicht so mangelhaft beherrschte. Jede Angabe, wo Deutschland steht, sitzt, liegt oder stehen sollte, hätte den Dativ erfordert: Deutschland über „allem“ in der Welt.
Der Akkusativ „über alles“ verlangt indessen, von einem Verb auszugehen, das eine Tätigkeit mit Deutschland als Akkusativobjekt ausdrückt: Deutschland lieben wir, mögen wir, stellen wir über alles in der Welt. Nein, es liegt nichts Verwerfliches in dieser ersten Strophe des Lieds der Deutschen. Was daran so liebenswert ist, artikuliert dann die zweite Strophe.

                                                   Deutsche Frauen, deutsche Treue,
                                                   Deutscher Wein und deutscher Sang
                                                   Sollen in der Welt behalten
                                                   Ihren alten schönen Klang,
                                                   Uns zu edler Tat begeistern
                                                   Unser ganzes Leben lang –
                                                   Deutsche Frauen, deutsche Treue,
                                                   Deutscher Wein und deutscher Sang!

 

  Zur „edlen Tat“, zu der die zweite Strophe aufruft, gehört sicherlich auch die Gastfreundschaft gegenüber Fremden – wie auch überhaupt nichts Feindseliges, nichts Kriegerisches gegenüber irgendeiner anderen Nation im Lied ausgesprochen wird ,was man beileibe nicht über alle Nationalhymnen sagen kann.

Doch auch hier herrschen - wie könnte es anders sein - geteilte Meinungen.

  Marion Gräfin Dönhoff, 23. August 1951:

  »Haben wir nicht eine sehr schöne Nationalhymne, die nicht einmal durch die Hitlerzeit kompromittiert ist, in der sie nur als Konzession an die 'Reaktion' auch gesungen wurde? Ob man nun den ersten oder den dritten Vers singt, das ist wirklich ziemlich gleichgültig – auch bei Volksliedern und Chorälen wird ja der Text nicht auf die Waagschale gelegt.«

  Karl Jaspers, 1983:

  »'Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang' – Welche Gemütlichkeit! Kann heute ein Deutscher in solcher Ausdrucksweise sprechen, ohne zu lachen? Ist das heute nicht für jeden unverdorbenen Geschmack einfach Kitsch? Und dieser ist Nationalhymne der Bundesrepublik?«

 

  Die Verse versinnbildlichen die Liebe zu einem Vaterland, dessen dritte Strophe die Einigkeiteit in Freiheit als ständiges Bemühen anmahnt.

                                                   Einigkeit und Recht und Freiheit
                                                   Für das deutsche Vaterland!
                                                   Danach laßt uns alle streben
                                                   Brüderlich mit Herz und Hand!
                                                   Einigkeit und Recht und Freiheit
                                                   Sind des Glückes Unterpfand –
                                                   Blüh’ im Glanze dieses Glückes,
                                                   Blühe, deutsches Vaterland!

 

  Dem „Lied der Deutschen“ steht eine lange, wechselvolle Odyssee durch die deutsche Geschichte bevor. Der Deutsche Bund wird infolge des Deutschen Krieges vom Sommer 1866 aufgelöst. Preußen und seine Verbündeten gründen einen Bundesstaat, den Norddeutschen Bund. Dieser ist formell kein Nachfolger des Deutschen Bundes, nimmt aber viele Ideen und Initiativen aus jener Zeit auf. Einen „Deutschen Bund“ gab es kurzfristig noch am Anfang des Jahres 1871. Durch Vereinbarung des Norddeutschen Bundes mit Bayern, Württemberg, Baden und Hessen vom 8. Dezember und Beschluss des Bundesrates und des Reichstags vom 9./10. Dezember 1870 wurde der Halbsatz „Dieser Bund wird den Namen Deutscher Bund  führen“ ersetzt durch: „Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich führen“; die Bestimmung über den neuen Staatsnamen tritt am 1. Januar 1871 in Kraft. Mit der neuen Reichsverfassung vom 16. April 1871 wurde der „Deutsche Bund“ aus dem Titel der Verfassung getilgt.

  Auch nach der Reichsgründung von 1871 wurde das bis dahin bereits in Preußen übliche Lied Heil dir im Siegerkranz im Sinne einer Nationalhymne verwendet und die Hymne Hoffmanns von Fallersleben durch die Krone als „republikanisch“ abgelehnt. Beim Volk war zu dieser Zeit dagegen auch Die Wacht am Rhein beliebt. Eine offizielle Hymne gab es nicht. Das Deutschlandlied war damals nur ein beliebtes patriotisches Lied unter mehreren. Bei einer offiziellen Gelegenheit wurde es erstmals 1890, bei der Feier anlässlich der Übernahme von Helgoland (infolge des Helgoland-Sansibar-Vertrags), aufgeführt. In der Folge dieses Vertrages gründete sich 1891 der Alldeutsche Verband, der die imperialen Expansionsbestrebungen aufnahm und kanalisierte und das „über alles in der Welt“ in diese Richtung interpretierte. Seitdem wertete man zunehmend auch in Großbritannien das „über alles“ als Zeichen des Expansionsstrebens. Wie Victor Klemperer später in seinem

LTI – Notizbuch eines Philologen schrieb, gab es aber noch eine andere Deutung; für ihn drückten die Worte im Ersten Weltkrieg „nur die Wertschätzung des Gemüts, die der Patriot seinem Vaterland entgegenbringt“, aus. Lange Zeit war es aber nur eines von vielen Liedern der Nationalbewegung. In den Vordergrund trat das Lied im Ersten Weltkrieg, als die Oberste Heeresleitung verlautbarte, es sei beim Gefecht von Langemarck von deutschen Soldaten gesungen worden (Mythos von Langemarck).

 

  Die Zielvorstellung der Patrioten von Theodor Körner bis Heinrich Hoffmann schien endlich mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 erreicht. Das Parlament wird eines der obersten Reichsorgane. Der Reichstag trat erstmals am 24. Juni 1920 zusammen. Er übernahm seine Tätigkeit von der Weimarer Nationalversammlung, die vom Februar 1919 bis zum Mai 1920 als Parlament gedient hatte. Erst in der Weimarer Republik,

am 11. August 1922, wurde das Lied der Deutschen mit allen drei Strophen vom sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert zur Nationalhymne erklärt. Allein, es war eine Demokratie ohne Demokraten. Ein weiterer schmerzhaftewr Lernprozess stand ins Haus.

  In der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 war der Reichstag ein Scheinparlament. Mangels wesentlicher parlamentarischer Kompetenzen sowie wegen des Singens der Nationalhymne wurde er mitunter spöttisch der „teuerste Gesangsverein Deutschlands“ genannt. Nach der ersten Reichstagswahl in der Zeit des Nationalsozialismus verabschiedete der Reichstag am 24. März 1933 das Ermächtigungsgesetz. Damit trat er seine Gesetzgebungskompetenzen faktisch an die Reichsregierung (Kabinett Hitler) ab. Ab Juli desselben Jahres bildete die NSDAP die einzige Fraktion. Reichstagspräsident war Hermann Göring. Mit dem Anschluss Österreichs wurde das deutsche Parlament 1938 in Großdeutscher Reichstag umbenannt.

  Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die zweite und die dritte Strophe des Deutschlandliedes nicht mehr bei öffentlichen Anlässen gesungen. Wenn die Nationalhymne gespielt und gesungen wurde, folgte in der Regel das Horst-Wessel-Lied, die Parteihymne der Nationalsozialisten; 1940 wurde dies Vorschrift. Das Ziel war die Symbolisierung der Einheit zwischen NSDAP und Staat. Mit dem Beibehalten wenigstens eines Teiles des Deutschlandliedes knüpften die Nationalsozialisten aber nicht etwa an die Tradition der Weimarer Republik an: Vielmehr ging ihre Begeisterung für das Lied auf den Mythos von Langemarck zurück, nach dem deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg Deutschland, Deutschland über alles singend in die Schlacht gezogen sind. Die von den Nationalsozialisten verwendeten Symbole versuchten häufig, eine Kontinuität mit der Zeit vor der Weimarer Republik herzustellen. Dies gilt nicht nur für die Hymne, sondern bereits für den Begriff „Drittes Reich“. Die Hakenkreuzflagge der Nationalsozialisten griff die Farben Schwarz-Weiß-Rot auf, die Farben des Deutschen Reiches von 1871.

 

   Nach Kriegsende verbot der Alliierte Kontrollrat zwar den Gebrauch charakteristischer „nazistischer oder militärischer Grußformen“, nicht aber das Deutschlandlied oder auch nur dessen öffentlichen Gesang. Nur in der amerikanischen Zone war „das Singen oder Spielen irgendwelcher Militär- oder Nazi-Lieder oder deutscher National- oder Nazi-Hymnen“ untersagt. Es ist zweifelhaft, ob davon auch die dritte Strophe des Deutsch-landlieds erfasst war, weil sie bekanntlich in der Zeit des Nationalsozialismus keine offizielle Verwendung mehr gefunden hatte. In der französischen Zone gab es überhaupt kein Verbot, auch nicht in der britischen Zone. Eine Verordnung der Militärregierung vom 15. September 1945 verbot lediglich „das öffentliche Singen oder Spielen militärischer oder Nazi-Lieder oder Melodien“. 1949 wurden diese Verbote von der Alliierten Hohen Kommission aufgehoben.

  Da die Bundesrepublik kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch keine Nationalhymne hatte, wurde bei einem Besuch Bundeskanzler Konrad Adenauers in Chicago aus Verlegenheit das Kölner Karnevalslied Heidewitzka, Herr Kapitän  gespielt. Bei offiziellen Empfängen kam auch ein anderes Lied von Karl Berbuer zu offiziellen Ehren, der Trizonesien-Song – eine Anspielung auf die drei Besatzungszonen der Westmächte. Angeblich durch die Verwendung der „Gassenhauer“ verärgert, forderte Adenauer bereits am 18. April 1950 in einer Rede im Berliner Titania-Palast die Zuhörer auf, die dritte Strophe des Deutschlandliedes zu singen.

  Das Lied der Deutschen wurde 1952 durch einen im Bulletin der deutschen Bundesregierung veröffentlichten Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Konrad Adenauer und Bundespräsident Theodor Heuss im Mai 1952 offiziell zur Nationalhymne der Bundesrepublik deklariert. Darin erklärte Heuss, dass er damit der Bitte der Bundesregierung nachkomme, die durch Adenauer erneut darum gebeten hatte, „das Hoffmann-Haydn’sche Lied als Nationalhymne anzuerkennen. Bei staatlichen Veranstaltungen soll die dritte Strophe gesungen werden.“ Auf Bitte des damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger nahm 1977 der Schlagersänger Heino das Deutschlandlied mit allen drei Strophen für eine Single-Veröffentlichung auf, die nur für den Schulunterricht des Landes gedacht war, und erntete damit kritische Reaktionen.

  Der Literaturwissenschaftler Jost Hermand hielt es 1979 für unmöglich, Lied und historische Rezeption zu trennen. Es genüge nicht, das Lied der Deutschen einfach durch einen Hinweis auf seine demokratische Vergangenheit zu rechtfertigen:

  „Dieses Gedicht hat nun einmal nicht nur eine Intention, sondern auch eine Rezeption. Und die ist eindeutig negativ. Schließlich hat man es seit 1914 so stark mit falschen Gehalten aufgeladen und angeheizt, daß seine Herkunft allmählich immer unwichtiger wurde.“

 

  Nach der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wurde nur die dritte Strophe des Liedes der Deutschen Nationalhymne des vereinigten Deutschland. Bundespräsident Richard von Weizsäcker schrieb Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Brief vom 19. August 1991:

  „Die 3. Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn ist die Nationalhymne für das deutsche Volk“, und dieser stimmte dem mit Schreiben vom 23. August 1991 „namens der Bundesregierung“ zu. Der Briefwechsel wurde zunächst im Bulletin der Bundesregierung vom 27. August 1991 veröffentlicht und als Bekanntmachung vom 19. November 1991 dann noch einmal im Bundesgesetzblatt Nr. 63 vom 29. November 1991. Als staatliches Symbol und Verfassungswert ist die dritte Strophe des Deutschlandliedes als Nationalhymne gemäß § 90a StGB gegen Verunglimpfung geschützt. Der strafrechtliche Schutz ist aber dadurch eingeschränkt, dass Autoren von Nachdichtungen sowie Parodien der Nationalhymne sich ihrerseits unter Umständen auf die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz berufen können; jedoch stellt heute das Abspielen oder Singen der ersten und zweiten Strophe – die offiziell kein Teil der Nationalhymne sind – keine strafbare oder verbotene Handlung dar; allerdings wird das Singen insbe-sondere der ersten Strophe in der öffentlichen Meinung zuweilen noch als Ausdruck einer nationalistischen Einstellung gewertet.

 

  Ende gut - alles gut? Sowohl Intention als auch Rezeption jenes Zeitgeistes, der dem Lied der Deutschen zugrunde liegt, ist heute weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Der idealistische Freiheitsbegriff, der ganze Dichtergenerationen inspirierte und die Forderung nach politischer Selbst-bestimmung in erster Linie aus einem innewohnenden Nationalbewusstsein schöpfte, wurde durch eine neue, dem kaufmännischen Geist hörige „Weltoffenheit“ abgelöst und diese auch bis zur Selbstaufgabe zum neuen Ideal designiert, nach dem „mit Herz und Hand“ zu streben sich eine neue Glaubensformel als „Maß aller Dinge“ durchgesetzt hat. Die Folgen signalisieren - wieder einmal - einen bevorstehenden Kulturbruch, diesmal globalen Ausmaßes. Mit unabsehbaren Folgen. Und leider bereits alternativlos. War die vielbeschworene

Einigkeit der Preis für Recht und Freiheit? Wird es für eine Zukunft des Liedes der Deutschen  reichen? Für die Deutschen, die ein eher pathologisches Verhältnis zu Hymne und Zugehörigkeit entfaltet haben?

Wird sich eines Tages eine neue Identifikation der Deutschen ausrichten - und welche?

   Ich schließe meine Gedanken mit einem tiefsinnigen ersten Vers eines Gedichtes von Friedrich Stoltze zu  einer oftmals doch so ungelegenen Sehnsucht nach EINTRACHT:

 

                                                   O milde Göttin, der das alte Rom

                                                   Schon heit’re Tempel weihte und Altäre;

                                                   Aus deren Füllhorn sich ein gold’ner Strom

                                                   Herniedergießt, dass er die Welt verkläre;

                                                   Was wär’ sie ohne dich? Ein Schreckphantom.

                                                   Der Hölle Spielball in der Sonnensphäre,

                                                   Und eine Erde, die nur Blumen trüge,             

                                                   Das Laster zu bekränzen und die Lüge.

 

  Alles hat - und hatte eben „seine“ Zeit...

7. April 2017