Die verlorene Unschuld

 

   Die menschliche Psyche, mitunter sogar die eigene, ist immer wieder für eine Überraschung gut. Geradezu wundersam erscheint es, wenn hin und wieder sich, durch scheinbar völlig banale Vorkommnisse ausgelöst, eine unvorhergesehene Eigendynamik entwickelt, die sich im Kopf dann lawinenartig fortpflanzt und das gesamte Bewusstsein - zumindest temporär - beansprucht. Manchmal sogar dauerhafter. Wie eine Nebelbank legen sich dann Erinnerungsfragmente aus fernen Lebensabschnitten über eine neu hinzugewonnene Wahrnehmung, jedoch nicht um Konturen zu verwischen, sondern im Gegenteil, ungeahnte Zusammenhänge sichtbar zu machen und neue Perspektiven zu eröffnen, die sonst im alltäglichen Procedere unentdeckt blieben.

   Es war also nach Feierabend, dem ein angestrengter Tagesablauf vorangegangen war und der eigentlich nur noch dem durchaus anspruchslosen Bedürfnis genügen sollte, die aufgeputschten Sinne zu besänftigen und einer geruhsamen Nacht den Weg zu bereiten. Was gäbe es da also Bescheideneres, als das genüssliche Versinken auf dem Kanapee im Verbund mit einem gemeinsamen viewing „alter“ Filme vom Bildschirm, die damals entstanden sind, da man noch als Pubertierender die Welt entdeckte und die nun jenen inzwischen uns entfremdeten Zeitgeist wieder-erwecken und als süße Erinnerung dem Orkus der Vergessenheit entreißen sollte. Was er auch tat.

   Es begab sich also an einem Freitagabend im März. In Abfolge der üblichen Schreckensnachrichten von Tagesschau und den Horrormeldungen von extremen Wintereinbrüchen an der Schwelle zum herbeigesehnten Frühling: zwei alte Schwarzweißfilme mit Heinz Rühmann als Hauptdarsteller. Er ein überaus populärer Schauspieler hierzulande mit Volksheldcharakter, der bereits vor und auch nach jenem geschichtlichen Desaster durchaus Bemerkenswertes in seinem Fach vorzuweisen hatte. Diesmal als Dorfpfarrer mit detektivischen Ambitionen agierend, entledigte sich der Titelheld seiner Aufgabe mit spitzbübisch herablassender Manier an der Seite eines vertrottelten Kriminalkommissars auf dessen Kosten. Dies wohl zum Amüsement der Kinogänger einer Ära, die allesamt mehr oder weniger glücklich den Barbareien einer Weltkatastrophe entkommen waren. So weit, so gut.

   Dem heutigen Fernsehkonsumenten präsentierte sich die ganze Machart dieser Produktion als total vordergründig angelegt, vom Sinngehalt her geradezu simpel aufgebaut, gemessen an den heutzutage gewohnten, mit allen psychologischen Finessen angereicherten Drehbüchern. Der Verlauf der Handlung verlief außergewöhnlich langsam; auch nach einem eingelegten Toilettengang war es kein Problem, diesem weiter zu folgen. Ganz anders als bei den modernen Produktionen. Selbst nach einem Sekundenschlaf geht dort der „Faden“ sofort verloren und der ganzen Sendung denn auch die doch so wichtige Spannung. Dennoch: Dem zeitgenössischen Zuschauer solch antiquierter Filme nötigt die darin zur Schau gestellte Einfalt ungewolltes Kopfschütteln ab. Mit „so was“ kann man heute nicht mehr kommen…

   Doch was noch darauf folgte, sollte sich im Nachhinein geradezu als Offenbarung herausstellen. In den allerersten Tagen des sich anbahnenden „Wirtschaftswunders“ angesiedelt, stellten die beiden folgenden Filme gewiss einigen Anspruch an die Geduld all der Konsumenten, die mehrere Generationen später das „Licht der Welt“ erblickt hatten. Vor „Schmalz“ triefende, geist- und sinnentwöhnte Schlagerinterpretationen umrahmten akustisch eine aufgebrezelte Klischeewelt: alpenländische Postkartenmotive als Kulisse für die in Trachtenanzügen, Jägeruniformen, Dirndln, Petticoats und Miniröcken agierenden Darsteller, die allesamt auch nicht nur andeutungsweise den Verdacht aufkommen ließen, als hätte jemals ein Zweiter Weltkrieg stattgefunden, einer Zäsur, die damals alle ausnahmslos bis in die Grundfesten ihrer Existenz erschüttert haben musste.

   Doch auch nur vor diesem sinistren Hintergrund wird jene ungeheuerliche Verdrängung verständlich - und nachvollziehbar. Als reine Unterhaltung, so wurde mir klar, taugt eine solche „posttraumatisch“ inspirierte Präsentation vor einem heutigen Publikum mitnichten. Für alle jene, die diese Zeit miterlebt hatten, war es indessen eine Zeitreise in eine ebenfalls längst überlebte Episode ihrer Lebenserfahrungen, eine Retrospektive für Senioren-heimbewohner und alle Überlebende einer untergegangenen Zeit. Doch da wäre noch ein weiterer Aspekt. Obwohl jener „Oldie“-Filmabend bis nach zwei Uhr nachts dauerte, lag ich dessentwegen noch eine Stunde lang wach und sann darüber nach, was sich da alles in unserer Welt seither so verändert hat. Und warum.

   Alles ist heute anders. Zurückblickend schaut man in eine Welt, die uns Älteren selbst fremd geworden ist. Und da entdecke ich in mir das Aufkeimen einer nostalgischen Anwandlung, die mich zunächst verblüfft – geht es mir heute doch unendlich viel besser als „damals“.

Es sind nicht nur die schönen alten Autos, in denen man seinerzeit den Führerschein machen durfte und darin seine ersten Liebschaften umherchauffierte, nicht die bunten, putzigen Omnibusse und die alten Schlager, die einen sentimental werden lassen. Es sind vornehmlich die wunderschönen jungen Damen von einst mit ihrer Mode und den kunstvollen Frisuren und der Art, wie sie sich bewegten und auftraten. Und tatsächlich: so etwas vermisst man heute im Straßenbild…

   Doch was, in drei Teufels Namen, hat die gesamte Gesellschaft und uns selbst in unserer Wahrnehmung derart nachhaltig so verändert, dass unsere Enkel uns nicht mehr verstehen können – und wir sie auch nicht?

   Mir wird bewusst, dass wohl keine so zusammengedrängte Periode der Weltgeschichte eine solch nachhaltige Wandlung ihres Selbstverständnisses vollzogen hat, wie die von uns selbst durchlebte vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des Säkulums. Alle haben sie dazu beigetragen: die Innovationskraft mehrerer Generationen, der wirtschaftliche Aufschwung dank externer Hilfe, und all die sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit. Doch wie konnte es kommen, dass jetzt eine ganze Gesellschaftsstruktur aus dem Ruder zu laufen droht, dass Entscheidungen getroffen werden, die kein Mensch mehr erklären kann, dass sich Verflechtungen ausgebildet haben, die niemand mehr in ihrer Komplexität versteht? Und eine Art Zwangsläufigkeit von Entwicklungen eingetreten ist, die diese unumkehrbar erscheinen lassen und den Menschen selbst als Lenker seiner Geschicke inzwischen entbehrlich gemacht und abgelöst hat? Ein Blick zurück mag einiges verdeutlichen.

   Es begann in der Ära des „Kalten Krieges“. Das „Gleichgewicht des Schreckens“ zwang die Kontrahenten dazu, hinter allem das Schlimmste zu vermuten, um einem Angriff wirksam begegnen und möglichst zuvorkommen zu können. Jeder Block musste als Überlebensstrategie versuchen, den anderen auszutricksen. Die Erfindung des Computers erlaubte es ab den Siebziger Jahren, Spielzüge zu digitalisieren und in Echtzeit, sich dauernd verändernde Signale auszuwerten und in spieltheoretischen Modellen mit atemberaubender Geschwindigkeit sogar eigenes Handeln auszurichten. Bald schon danach ging es nicht mehr um konkurrierende Militärblöcke, sondern um – alles.

   Denkfabriken haben seitdem die Geburt eines neuen Denkens auf alle Bereiche übertragen, in der jeder gewinnen will. Dem arglosen Zeitgenossen verborgen, hat sich umfassend eine Evolution vollzogen, die dramatischer nicht sein könnte. Nach den Börsen hat sie inzwischen längst die gesamte Wirtschaft im Griff. Und nicht nur diese.

   Finanzmarkttransaktionen nähern sich mittlerweile der Lichtgeschwindigkeit. Maschinen vollziehen Entscheidungen millio-nenfach schneller als irgendein Mensch auch nur imstande wäre zu begreifen, dass er über den Tisch gezogen wurde. Der Kalte Krieg feiert längst fröhliche Urständ überall in unserer Gesellschaft. Das alles funktioniert keineswegs nach dem Kriterium moralischer Bedenken, sondern basiert auf dem Prinzip, dass man nur dann eine rationale Strategie finden wird, den Gegner auszutricksen, wenn man vom Schlimmsten ausgeht und sich darauf vorbereitet. Hierzu ist es unerlässlich, den Widersacher über die eigenen Absichten im Zweifel zu lassen. Autonomes Handeln verkommt so zum gezielten Täuschungsmanöver. Alles wird zum Markt und unterliegt seinen Gesetzen. Bürger und Staat haben ihre Souveränität abgegeben und die Finanzmärkte spielen ihr Nullsummenspiel mit der Gesellschaft: Des einen Gewinn ist des anderen Verlust.

   Der Mensch, so wie wir ihn im klassischen Sinn als homo sapiens sapiens vorzugsweise sehen (möchten), wurde ebenso diskret wie folgenschwer vom homo oeconomicus abgelöst und ersetzt. Wir erkennen es – wenn wir denn kritisch hinschauen – in der Eigendynamik sich verselbständigender konkurrierender Märkte, Systeme und Branchen, in der Machtlosigkeit der Parlamente und der staatlichen Institutionen gegenüber „alternativlosen“ Zwängen, in den ständigen Umverteilungen innerhalb gesellschaftlicher Hierarchien, ebenso wie in der weit fortgeschrittenen Beeinflussung des Anspruchdenkens unserer Enkelkinder.

   Heute leben wir in einer egozentrisch ausgerichteten Gesellschaft, die sich, argwöhnisch jeder Konsensfähigkeit und Kompromissbereitschaft verweigernd, zwangsläufig selbst zerstören wird. So, wie wir sie uns gerne vorstellen, kann sie sich auf Dauer weder hier, noch in einer religiös, noch ideologisch orientierten Gemeinschaft weiterentwickeln. Der „Zug“ ist abgefahren: Die nunmehr geltende Matrix „Selbstmaximierung“ müsste sich dazu von ihren egoma-nischen Zielvorstellungen lösen und auf das Wohlergehen der Menschheit mit ihrer Umwelt als Gesamtes umkonzentrieren.

   Und das war es wohl auch, was mir den Blick zurück in eine einst gelebte Vergangenheit jetzt so befremdlich erscheinen lässt. Was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, dass in einer Welt, gegen die kein Einspruch möglich erscheint, jeder die Schuld bei sich selbst suchen muss.     

                       30. März 2013