Der lange Weg

 

 

Das Reichstagsgebäude

 

  Der von 1884 bis 1894 im Stadtteil Tiergarten durch Paul Wallot im Stil der Neorenaissance errichtete Bau am linken Ufer der Spree beherbergte sowohl den Reichstag des Deutschen Kaiserreiches als auch den Reichstag der Weimarer Republik.

  Der Reichstag war von 1871 bis 1918 das Parlament des Deutschen Kaiserreichs. Schon im Norddeutschen Bund hatte das Parlament denselben Namen und dieselbe Position im politischen System. Der Reichstag verkörperte neben dem Kaiser die Einheit des Reiches, war also ein unitarisches Organ. Er repräsentierte das nationale und demokratische Element neben dem Föderalismus der Bundesstaaten und der monarchisch-bürokratischen Exekutive (dem Kanzler) im Machtgefüge des Reiches.

  In der Weimarer Republik (1919 bis 1933) war nach der Weimarer Reichsverfassung von 1919 das Parlament und damit eines der obersten Reichsorgane. Der Reichstag trat erstmals am 24. Juni 1920 zusammen. Er übernahm seine Tätigkeit von der Weimarer Nationalversammlung, die vom Februar 1919 bis zum Mai 1920 als Parlament gedient hatte.

  In der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 war der Reichstag ein Scheinparlament. Mangels wesentlicher parlamentarischer Kompetenzen sowie wegen des Singens der Nationalhymne wurde er mitunter spöttisch der „teuerste Gesangsverein Deutschlands“ genannt. Nach der ersten Reichstagswahl in der Zeit des Nationalsozialismus verabschiedete der Reichstag am 24. März 1933 das Ermächtigungsgesetz. Damit trat er seine Gesetzgebungskompetenzen faktisch an die Reichsregierung (Kabinett Hitler) ab. Ab Juli desselben Jahres bildete die NSDAP die einzige Fraktion. Reichstagspräsident war Hermann Göring. Mit dem Anschluss Österreichs wurde das deutsche Parlament 1938 in Großdeutscher Reichstag umbenannt.

 Nach schweren Beschädigungen durch den Reichstagsbrand von 1933 und im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude in den 1960er Jahren in modernisierter Form wiederhergestellt und von 1991 bis 1999 noch einmal grundlegend umgestaltet.

Die Bundesversammlung tritt hier seit 1994 zur Wahl des deutschen Bundespräsidenten zusammen und ist seit 1999 Sitz des Deutschen Bundestages.

 

  Johann Paul Wallot (* 26. Juni 1841 in Oppenheim; † 10. August 1912 in Langenschwalbach) war ein deutscher Architekt und Hochschullehrer. Er ist vor allem für den Entwurf des zwischen 1884 und 1894 entstandenen Reichstagsgebäudes in Berlin bekannt. Wallot hatte als Widmung des Gebäudes bestimmt, dass der Architrav des Westportals die Inschrift

„Dem deutschen Volke"

erhalten sollte – was auf eine lebhafte publizistische Debatte, mutmaßliche Ablehnung beim Kaiser und eine Reihe von Gegenvorschlägen stieß. Die von Wallot für den Spruch vorgesehene Stelle blieb mehr als 20 Jahre lang leer, was Bernd Roeck als Zeichen „ungeklärter Identität“ bezeichnet hat und den Reichstag dieser Zeit deshalb als „Emblem ohne Motto“ ansieht.

 

Geschichte einer Inschrift

 

  Der Berliner Lokal-Anzeiger nannte den Plan am 11. Dezember 1894 „naiv, beinahe komisch“, denn der Besitzer des Hauses sei „das deutsche Volk, welches der Bauherr war“. Rainer Haubrich merkt aus zeitlicher Distanz an, es sei „nicht üblich“, dass der Baumeister dem Bauherrn eine Widmung ausspricht. Laut dem Politikwissenschaftler Klaus von Beyme lehnte Kaiser Wilhelm II. die Wendung ab, weil sie die Volkssouveränität würdige. Es wurde eine Reihe von Gegenideen vorgebracht; die Reichstagsbaukommission schlug „Dem Deutschen Reiche“ vor, Wilhelm II. „Der Deutschen Einigkeit“. Der Kunsthistoriker Bernd Roeck ist der Ansicht, dass Wilhelms Vorschlag Motto für ein Gebäude sei, das „zähmen, disziplinieren, mindestens integrieren“ sollte.

  Für den Historiker Heiko Bollmeyer hätte eine solche Inschrift die Möglichkeit eröffnet, „ein unabhängiges und eigenes parlamentarisches Selbstverständnis auszubilden“. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 blieb die publizistische Debatte mit verschiedenen Vorschlägen für die Inschrift und unterschiedlicher Intensität bestehen. 1915 brachte der Unterstaatssekretär im Reichskanzleramt, Arnold Wahnschaffe, in einem Brief an den Chef des Zivilkabinetts, Rudolf von Valentini, die Frage wieder auf. Wahnschaffe äußerte die Sorge, dass der Kaiser mit jedem weiteren Kriegstag die Unterstützung des Volkes verliere; durch die Anbringung der Inschrift könne er etwas gegen diesen Treueverlust unternehmen. Wilhelm II. ließ antworten, er werde keineswegs eine ausdrückliche Genehmigung erteilen, aber sollte die Reichstagsausschmückungs-Kommission beschließen, die Inschrift anzubringen, erhebe er dagegen keine Bedenken. Einen Tag später gab der Präsident des Reichstages, Johannes Kaempf, den Beschluss bekannt, die Inschrift in Auftrag zu geben.

 

  In der politisch-satirischen Zeitschrift Kladderadatsch war vor der Anbringung am 12. September 1915 zu lesen:

                                       Und ohne Inschrift ist’s lange geblieben -

                                        Da kam der Deutsche in Feldgrau daher,

                                       Er sprach die Worte weittönend und schwer

                                       Und hat – mit dem Schwert sie eingeschrieben:

 

 

  Auch über die Schriftart der Inschrift gab es Streit: Während einige für eine klassische Capitalis plädierten, wollten andere am deutschen Reichstag die „deutsche Schrift“ Fraktur sehen. Als Kompromiss gestaltete der Architekt und Typograf Peter Behrens den Schriftzug zusammen mit Anna Simons in „nicht weniger als eine[r] alldeutsche[n] Nationalschrift […], eine[r] Kapital-Unzial-Frak. Mit einem zwischen schräggestellter Breitfeder und Flachpinsel lavierenden Duktus modifiziert sie die Grundformen der klassischen Unziale (E, U, T) durch Sporen der linken Schaftfüße in M, H, N und K und Brechung der rechten in M, U, H, N, Knickung des oberen Bogenprofils von E, M, S, C und Serifierung der Schaftansätze in U, H, K und L, indem sie die Rundungen streckt (D) und die Geraden rundet (V) und die Aufschrift in einen vitalistisch-flammenden Kontrapunkt zur geometrischen Architektur verwandelt.“

  Während des Ersten Weltkriegs gab der Unterstaatssekretär im Reichskanzleramt, Arnold Wahnschaffe, den Anstoß, die Inschrift jetzt anzubringen, um dem Verlust der Unterstützung für den Kaiser in der Bevölkerung entgegenzuwirken. Der Kaiser ließ mitteilen, eine ausdrückliche Genehmigung der Inschrift werde er nicht erteilen; er habe aber keine Bedenken, wenn die Reichstagsausschmückungs-Kommission eine solche beschließe. Einen Tag später gab der Präsident des Reichstags, Johannes Kaempf, bekannt, dass die Inschrift nun angebracht werden sollte.

  Der Architekt und Industriedesigner Peter Behrens wurde im Herbst 1915 mit der Gestaltung des Schriftzuges beauftragt. Zwei erbeutete Geschützrohre aus den Befreiungskriegen gegen Frankreich 1813–1815 wurden für die Herstellung der 60 cm hohen Buchstaben eingeschmolzen. Die Ausführung übernahm die Bronzegießerei Loevy, ein jüdisches Familienunternehmen. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin befasste sich unter dem Titel „Dem deutschen Volke“ vom 21. März bis 15. Juli 2003 mit der Geschichte des Bronzegießers Loevy.

  Die Inschrift wurde vom 20. bis 24. Dezember 1916 „ohne großes Medieninteresse“ angebracht. Bernd Roeck spricht von einer „leichthin, nebenbei gewährte[n] Geste“, die angesichts des Weltkriegs „belanglos“ geblieben sei.  Die im Zweiten Weltkrieg beschädigte Inschrift wurde beim Wiederaufbau wiederhergestellt und beim Umbau des Gebäudes 1994–1999 erneuert.

 

Deutungen und Aufnahme

 

  Syntaktisch betrachtet ist die Inschrift „Dem deutschen Volke“ eine Nominalphrase im Dativ, wie sie sich häufig als Widmung am Beginn eines Buches finden lässt. Diese Ellipse muss implizit durch Subjekt und Akkusativ-Objekt (wer widmet was) ergänzt werden.

  Das Reichstagsgebäude gilt allgemein als Symbol für das Parlament als Volksvertretung, weshalb die Inschrift üblicherweise ergänzt wird als „(Dieses Parlament ist) dem deutschen Volk (gewidmet)“ oder „(Die Arbeit der Politiker ist) dem deutschen Volk (gewidmet)“. Zwei Schweizer Politiker, Tim Guldimann und Moritz Leuenberger, haben die Inschrift in den 2010er Jahren als Ausdruck für ein anderes Verständnis des Volks als Souverän in Deutschland gegenüber der Schweiz bezeichnet, in der das Staatsvolk nicht als „Dativobjekt“ behandelt würde, sondern selbst handle. Toll, diese Schweizer!

  Im Jahr 2000 schuf der Projektkünstler Hans Haacke in Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von der Giebelinschrift das umstrittene Kunstwerk Der Bevölkerung im Lichthof des Reichstags, das in den Lettern des Giebels geschrieben ist. Haacke begründete sein Projekt damit, dass die alte Reichstagsinschrift „historisch belastet“ sei. Zudem seien heute fast zehn Prozent der Bewohner der Bundesrepublik keine deutschen Staatsbürger. Diesen gegenüber seien die Abgeordneten des Bundestages „moralisch verantwortlich“. Die Wortkombination „deutsches Volk“ impliziere eine „mythische, ausgrenzende Stammeseinheit“ und sei „mit einem radikal undemokratischen Verständnis der res publica assoziiert“. Dieser „eine Blutsgemeinschaft suggerierende Volksbegriff“ stifte immer noch „Unheil“. Typisch deutsch?

  Im April 2007 sorgte eine Protestaktion für Aufsehen, als Aktivisten die Giebelinschrift mit dem gleichartig gestalteten Banner „Der deutschen Wirtschaft“ überdeckten, um gegen den Lobbyismus und Kapitalismus zu demonstrieren.

 

  Indes findet der planvolle Abbau einer über viele Jahrhunderte gewachsenen Wertebewusstseins seinen letzten Niederschlag mit dem Ersatz althergebrachter Traditionen und Verhaltensnormen durch eine vorauseilende Integrations- und Bußkultur, die jedes Aufkommen von Selbstwertgefühl, Würde und Nationalstolz untergräbt. Die weltweite Verwirklichung der Menschenrechte als utopisches Fernziel liefert den Vorwand für die Machenschaften des Großkapitalismus und verbannt die eigenen, gewachsenen Ideale in den obsoleten Papierkorb der Weltgeschichte.

 

  Die Deutschen sind schon etwas ganz „eigenes“, fürwahr. Der Begriff „Volk“ abgeleitet aus dem althochdeutscheb folc = viele, ist unterschiedlich definiert. Im Sinne von Ethnie bezeichnet er eine Gruppe von Menschen, die sich als ideelle Einheit begreift, als eine durch gemeinsame Herkunft, Geschichte, Kultur und Sprache, z. T. auch Religion verbundene Gesellschaft. Im allgemeinen Sprachgebrauch nicht klar abgrenzbar von dem der Nation, welche mehr Elemente der politischen Willensbildung enthält und stärker emotionale Erfahrungen anspricht. Als Staats-Volk ist dieses in der Demokratie Inhaber der Souveränität, wie sie in Abstimmungen und Wahlen ausgeübt wird.

  Nach Artikel 20 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und Artikel 56 verpflichtet den Amtsträger mit dem Amtseid darauf, seine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen und Schaden von ihm abzuwenden. Artikel 116 GG besagt eindeutig, dass Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist, wer deutscher Staatsbürger ist.

  Den vorläufig (?) letzten Akt im Ringen um die finale Deutungshoheit in Sachen Patriotismus setzte das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 17. Januar 2017 in Sachen Verfassungsfeindlichkeit von politischen Parteien. Diese erfordert weder das das Begehen noch das Vorbereiten von Straftaten, sondern kann sich nach Auffassung des Gerichts bereits als qualifizierte Vorbereitung einer Beseitigung oder Beeinträchtigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung darstellen. Hierzu genügt schon die Beeinträchtigung eines einzigen der zentralen Prinzipien wie Menschenwürde, Demokratie, Rechtstaat - nun auch der ethnische Volksbegriff, der dem Gebot der gleichberechtigten Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess entgegensteht. Nicht allein gebräuchliche Gepflogenheit bei der deutschen Rechten, sondern auch in einvernehmlichem Gebrauch weiter Teile der Gesellschaft, ist nun nach Auffassung des Gerichts der volkstumsbezogene Vaterlandsbegriff der Deutschen Burschenschaft mit der Menschenwürde nicht vereinbar.

  Eine neue politische Klasse ist entstanden, die in aller Offenheit anschickt, das deutsche Volk, zu dessen Wohl und Nutzen sie gesetzlich verpflichtet ist, auch staatsrechtlich in eine multiethnische und multikulturelle „Bevölkerung“ umzuwandeln. Auch Angela Merkel negiert neuerdings das im Grundgesetz verankerte Staatsvolk. Die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende erklärte:

 

„Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt".

 

   Damit versucht sie den Begriff „Deutsches Volk“, der im Grundgesetz klar als die Gemeinschaft der Staatsbürger bestimmt ist, umzudefinieren. Sie zeigt, dass sie keinen Unterschied macht zwischen deutschen Staatsbürgern, nicht eingebürgerten Ausländern, Asylbewerbern, Flüchtlingen oder illegalen Migranten und fixiert den Begriff „Volk" neu. Damit stellt sie sich offen gegen Wort und Geist des Grundgesetzes. In der Wahlnacht 2013 hat sie ihrem Parteifreund Hermann Gröhe auf offener Bühne die Deutschlandfahne aus der Hand gerissen und weggeworfen, hat öffentlich erklärt, dass Deutschland nicht ihr Land sei, wenn ihre Flüchtlingspolitik kritisiert wird. Sie spricht auch nicht mehr von den Deutschen, sondern noch von denjenigen, die „schon länger hier leben." Merkel erklärte außerdem, dass es nicht möglich sei, die Grenzen zu schützen. Das zeigt, dass Angela Merkel sich dem „deutschen Volk“ nicht verpflichtet zu fühlen glaubt, sondern das „Staatsvolk“ im Sinne des Grundgesetzes ablehnt und auflösen möchte.

  Von Charles de Gaulle stammt die Einschätzung:

 

Die Deutschen, ein Volk, aber keine Nation.

 

  Ein weiter Weg liegt hinter diesem Volk: zwischen alter Bonner Burschenschaft von 1819 bis Angela Merkel.

 

              Treue Liebe bis zum Grabe                              In der Freude wie im Leide
              Schwör ich dir mit Herz und Hand;                     Ruf ich's Freund und Feinden zu:
              Was ich bin und was ich habe,                          Ewig sind vereint wir beide,
              Dank ich Dir mein Vaterland!                            Und mein Trost, mein Glück bist Du.

 
              Nicht in Worten nur und Liedern                        Treue Liebe bis zum Grabe
              Ist mein Herz zum Dank bereit,                           Schwör ich dir mit Herz und Hand;
              Mit der Tat will ich's erwidern                            Was ich bin und was ich habe,
              Dir in Not, in Kampf und Streit.                           Dank ich dir, mein Vaterland!

 
Heinrich Hoffmann von Fallersleben, 1839

 

8. März 2017