November-Blues

Höhenflug
Höhenflug

 

 

   Irgendwann passiert es dann. Wieder einmal. Du sitzt vor deinem ganz persönlichen Scherbenhaufen, der einmal dein Leben war, und eine grenzenlose Traurigkeit ergießt sich ungebeten und unvermittels wie Mehltau übers aufgewühlte Gemüt. Wo sind sie geblieben, all die Jugendträume, Fantasien, Visionen, Lebensentwürfe und Zielvorstellungen? Nichts von alledem hat sich so materialisiert, wie gedacht; Stückwerk allenfalls. Irgendwann hat sich dann alles verflüchtigt im fort-währenden Getriebe der Augenblicke. Einfach so.

 

                              Was denn wohl aus den Tönen wird,

                              Wenn die Musik verklungen?

                              Wo nur verliert die Sehnsucht sich,

                              Wenn das Ersehnte ist errungen?

                              Wo ist das Licht, wenn es erloschen,

                              Und wo der Wind, der nicht mehr weht?

 

                              Was mit dem Wollen, das gewesen,

                              Wohin geht alles, was vergeht?

                              Dorthin, wo’s keine Schatten gibt,

                              Fernab von Vorstellung und Wille!

                              Was glaubst du, Tod, denn sonst zu sein,

                              Als Regungslosigkeit und Stille?

 

  Tick – tack – tick – tack. Die Standuhr, Baujahr 1911, sendet ihr unbarmherziges Stakkato durch Raum und Zeit wie eh und je, ungerührt, gefühllos, scheinbar unaufhaltsam und so schrecklich unwiderruflich. Mechanisch eben. Dabei hatte ja alles so hoffnungsfroh begonnen. Damals.

  Der „Downhearted Blues“, in dem die legendäre Bessie Smith 1923 auf einer rauschenden Schellackplatte so steinerweichend von verschmähter Liebe sang, zieht wieder einmal durchs innere Gehör. Und dann kommt es wieder auf...

 Die arme Frau war nach einem Verkehrsunfall in Clarksdale, Mississippi verblutet, weil das nächste Krankenhaus dort prinzipiell keine coloured people behandeln wollte oder durfte und sie das „zuständige“ nicht mehr lebend erreichte. Das geschah 1937, zwei Monate nachdem ich das „Licht der Welt“ erblickt hatte. Auch traurig das alles, damals wie heute. Und irgendwie so symptomatisch, wofür diese Welt fähig ist! Oder besser, was man aus ihr gemacht hat. Zweitausend Jahre kämpften die Kirchen erfolglos für eine moralische Gesellschaft. Kämpften? Als Teil des „Systems“ waren sie nur dort erfolgreich, wo sie niemand daran hinderte, ihre gesellschaftliche Vorrang-stellung zu nutzen, wozu ihnen auch jedes Mittel recht war. Nein, auch hier ist die Vergangenheitsform unangebracht, wo doch da draußen in allen „heiligen Ländern“ Menschen sich redlich bemühen, ihre Unversöhnlichkeiten barbarisch abzuarbeiten…

   Gloomy sunday. Die klagende Melodei vom traurigen Sonntag zieht als insistierender Ohrwurm durch alle Gehirnwindungen. Weltschmerz? So etwas soll es ja geben. Aber wer bin ich denn schon, um mir die Obliegenheiten Gottes zuzumuten, meldet eine innere Stimme Bedenken an. Oder anzumaßen? Es sind die ganz persönlichen Dinge, die die Nadelstiche setzen: die Bilanz vergeudeter Chancen, die Kapitulation vor ungelösten, vielleicht unlösbaren Herausforderungen, die Feigheit vor dem imaginären Feind, die vielen falschen Fragen, Sackgassen, Irrtümer und was noch alles. Dazu eine unterdrückte Ahnung, dass du eigentlich schon lange nichts mehr in diesem irdischen Jammertal verloren hast. Dein Zug ist fahrplanmäßig schon vor langer, langer Zeit abgefahren, und nur die Kunstfertigkeiten einiger Mitfahrender haben es dir ermöglicht, die unaufhaltsame Evolution dieses grausam-schönen Planeten noch eine Winzigkeit weiter zu verfolgen.

  Alt bist du dabei geworden. Und müde. Immer an der Grenze zum Misanthropen vorbei geschrammt,

bist du zu Luft geworden für die Blicke der holden Weiblichkeit, deine Haut welkt, deine Haare werden täglich spärlicher, die Hände beginnen zu zittern und die Glieder schmerzen in der Nacht. Und doch hältst du an diesem kümmerlichen Vorhandensein fest? Hoffst auf glückliche Fügungen, obwohl du es besser weißt?

  „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ , so sang sich eine Zarah Leander in die Herzen unserer Vätergeneration, als sich der Untergang bereits unübersehbar ankündigte. Umsonst. Wie ein altes, verbrauchtes Auto, das den Lebens-TÜV nicht mehr schafft, bleibt dir am Ende nur die Aussicht auf Museum oder Schrottplatz.

 

                 So denn die Zeit, die niemals stille steht,

    Fortwandelnd zwischen Tag und Nacht,

                 Von dem, das sie mir hier vergönnt,

                 Aus Ewigkeit kaum einen Tag hat zugedacht:

                 Wenn denn des Todes Beute endlich wird

                 Alles was heute lebt,

                 Warum sei’s, dass da nach Dunkelheit

                 Denn die gefang’ne Seele strebt?

                 Sind’s Stätten nicht aus reinem Licht,

                 Wohin ihr Weg sie führt?

                 Sind denn nicht Flügel ihr gewachsen,

                 Wie das für Seelen sich gebührt?

 

  Noch nie zuvor stand dir die Hinfälligkeit alles dessen, was du für dein Selbstverständnis hieltest, deine „Substanz“, Sinn und Motivation deiner Antriebskräfte, so deutlich zu Bewusstsein. Und du erkennst: Alles das bedeutet in Wirklichkeit – nichts.

  Was war es denn schon Nötiges, das du hier so selbstherrlich gewagt und erstritten hast? Verwirklicht im Angesicht einer von allen guten Geistern verlassenen, verrückten Welt? Sie wird dir deine Machenschaften bei nächster Gelegenheit umgehend in den jeweilig aktuellen Papierkorb befördern. Aus. Vorbei.

  Du willst aufbegehren? Doch gibt es etwas dümmeres, als sich mit eingelegter Lanze und Kriegsgeschrei den Windmühlen des Unabänderlichen entgegen zu werfen? Das wirkt allenfalls komisch. Und wer sieht schon gerne seine erstrebte Heldenhaftigkeit, selbstgefällig persifliert, sich als komische Figur, als Ritter von der traurigen Gestalt? Du fragst dich: Gibt es da irgendwo noch einen Königsweg, der dir eine Würde in humorvoller Resignation zubilligt? Den gälte es zu beschreiten. Vielleicht findet er sich im Reich der Musik?

Es war der große Beethoven, der die Musik als die höhere Offenbarung hielt, höher als alle Weisheit und Philosophie. Vielleicht zu Recht.

 

                Das Gute, das der Mensch erstrebt,

                            Den Frieden, den das Herz ersehnt,

                            Den Hort der Liebe und der Freude,

                            Aus der die Sehnsucht Lust entlehnt:

 

                            Auf jenen Himmelshöhen denn

                            Mög’ meine Seele dann bewahren

                            Die Schönheit und das helle Licht,

                            Die ich auf dieser Welt erfahren.

 

   Ach ja, die Poesie. Trösterin in hoffnungslosen Fällen, auch wenn ich sie mir – wie hier geschehen - selbst geschenkt habe. Ein Fall von Deus ex machina, von frommer Selbsttäuschung?  Beweihräucherung einer ausgebrannten Raketenstufe kurz vor dem Verglühen? Warum auch nicht? Das hatte schon der selige Kaiser Marcus Aurelius als weltfremd und lächerlich erkannt, wenn sich jemand über etwas wundert, das im Leben vorkommt. Es gibt schließlich auch so etwas wie den „schwarzen“ oder Galgenhumor. Oder den unverbesserlichen Optimismus. Der mag vielleicht in letzter Konsequenz lebensfremd sein, macht aber das ganze denn doch irgendwie erträglicher.

  Ich kann sie schon im Hintergrund vernehmen, jene notorischen Frohnaturen: Was will er denn, der alte Griesgram? So schlimm ist es ja wohl doch nicht! Gewiss, auch der kennt die kleinen und großen Freuden des Alltags und schätzt sie gleichermaßen. Aber doch kommen mir diese beckmesserischen Tadler vor wie in einem begrenzten Freigehege herumscharrende Hühner, die jedes aufgepickte Schmankerl lautstark begackern und nächtens auf ihrer Stange selbstgenügsam vor sich hintuckern. Sie haben nie ihr Brot mit Tränen verzehrt, nie ihre Emotionen an jene höllischen Mächte verschwendet, die den Liebenden und Leidenden willkürlich unerbetener Drangsal aussetzen, um ihn danach in seiner Verlassenheit der Betrübnis zu überantworten. Und doch ist dies nicht das ganze Leben, wohlgemerkt. Wer sich dem in all seinen Facetten verweigert, weiß nichts vom Trost in der Finsternis, kennt nicht das Lied der Dunkelheit.

  O musica! Auf den Flügeln des Gesangs lasst uns aufbrechen in neue Erfahrungswelten! Und plötzlich ist er wieder da, der Geist von Vordem, dem faustischen Getriebensein trotzend.

 O Freunde, nicht diese Töne, sondern lasst uns angenehmere anstimmen!

  Ja, freudenvollere! Und wie ein Adler erhebt sich der Geist aus den Niederungen der Schwermut mit eigener Kraft und machtvollem Flügelschlag hoch in die Lüfte und erschaut die Welt aus elysischen Höhen. Verflogen sind Trübsal und Bitternis und alle Schuld gerächt.

  Und irgendwo da unten bekräht ein Huhn triumphal, dass es ein Ei gelegt habe.

updated 26. Oktober 2016