Langweilig?

 

   Wenn es denn wahr ist, dass der Mensch niemals langweiliger daherkommt, als wenn er glücklich ist, so verschafft ihm dieser Zustand gleichwohl Muße genug, um über sein eigenes Ende nachzudenken. Immerhin genießt er diese Fähigkeit als exklusives Privileg vor allen anderen Lebewesen. Doch damit nicht zufrieden, begibt er sich auf seiner Suche nach einer tolerierbaren Wahrheit, die es ihm ermöglichen soll, dieses sein Leben in glücklicher Kurzweil zu verbringen, in einen Teufelskreis. Die erfolgreiche Suche nach dem umfassenden Glück ist meines Wissens noch niemandem gelungen, der dies außerhalb seines Ich zu entdecken meinte. Es in sich selbst zu finden würde also bedeuten, dass dieser arme Mensch auch akzeptieren muss, von seiner Umwelt als langweilig eingestuft und dementsprechend behandelt zu werden. Doch wer möchte denn schon so etwas? Die Anerkennung oder gar Bewunderung der Gesellschaft ist doch das Lebenselixier unserer Zivilisation. Dennoch bemüht er, wider alle Vernunft, mit der berühmt-berüchtigten Quadratur des Kreises das Unmögliche – und damit das unausweichliche Scheitern. Beides geht nicht.

Es bleibt der – so zwar nicht direkt wahrgenommene – Selbstbetrug und das insgeheim unbefriedigende Leben hinter Fassaden. Wer es damit nicht bewenden lassen will, versucht es auch mal mit der Brechstange.

 

  Als ob man es nicht schon immer gewusst hätte: Die meisten Menschen sind nicht gern mit ihren Gedanken allein. Warum? Graut uns etwa vor uns selbst? Haben wir kein Selbstvertrauen? Die Forschung hat in einer Reihe von Experimenten heraus-gefunden, dass viele Menschen das „Alleinsein mit sich“ grundsätzlich als unangenehm empfinden. Sie greifen lieber selbst zu schmerzhaften Ablenkungen, als ohne zusätzliche Beschäftigung ihren Gedanken nachzuhängen. Friedrich von Schlegel empfand es einmal als sonderbare Kuriosität, dass der Mensch sich nicht vor sich selbst fürchtet. Er mochte hierfür seine Gründe gehabt haben.

  Sind also die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft ein Beweis für eine solche Feststellung oder dessen Gegenteil? Graut uns vor uns selbst, dass wir den näheren Kontakt mit unserem Ich lieber vermeiden? Oder ziehen wir es vor, nicht tiefer in eine Materie einzudringen, mit dessen ungewissem Ergebnis wir uns nicht belasten möchten? Ist der Mensch in seiner Mehrheit mit der ganzen Thematik überfordert? Bekanntlich ist es eine dem Menschen vorbehaltene Fähigkeit, über seine momentane Befindlichkeit hinaus über Vergangenheit, Zukunft, Kunst und hunderterlei irreale Fantasien, über sich selbst, ja sogar über sein eigenes Ende zu sinnieren. Strittig bleibt indessen, ob wir uns zwanglos diesen Herausforderungen ergeben, sie gar mehr oder weniger lustvoll genießen oder – fürchten.

 

  Das Ergebnis einer Studie weiß zu berichten, dass die meisten Testpersonen ihre liebe Not damit hatten, sich überhaupt zu konzentrieren und nicht gedanklich abzuschweifen und verneinten eindeutig, diese Erfahrung vergnüglich genossen zu haben. Menschen sind nun mal verschieden – im Fühlen wie im Denken. Doch selbst eine Wiederholung des Experiments in vertrauter Umgebung änderte nichts am Ergebnis. Auch eine Unter-suchung unter Personen verschiedenen Alters zwischen 18 und 77 Jahren zeitigte, dass das Sinnieren in der Regel keine Freude auszulösen vermochte. Doch es geht noch weiter: Eine Mehrheit der Probanden bevorzugte lieber eine unangenehme, ja selbst leicht schmerzhafte Tätigkeit, als gar keine. Erstaunlich! Es ließ die Forscher ratlos darüber, was es den Menschen scheinbar so schwer macht, sich allein mit ihren Gedanken zu beschäftigen, obwohl es jeder hin und wieder genieße, einfach in den Tag hinein zu träumen, nicht zu denken! - aber das allenfalls spontan. Selbst die Konzentration auf durchaus angenehme Vorstellungen sei schwierig und nur kurzzeitig vollziehbar.

  Was den Wissenschaftlern genügend Anlass verschafft zu weiteren Untersuchungen, weckt auch in mir Fragen verschiedener Art. Handelt es sich bei diesem Phänomen um eine verlorengegangene Fähigkeit im Umgang mit der Langeweile als eine kulturhistorische Besonderheit? Gewiss, der moderne homo sapiens ist nicht mehr ausschließlich mit Nahrungsbeschaffung und Läuseknacken ausreichend motiviert, wo ihm heute doch die virtuelle Unendlichkeit ein schier grenzenloses Betätigungsfeld eröffnet. Reduziert sich also ein gelangweilter, in seinem Kleinkosmos befangener Zeitgenosse selbst auf ein unberechenbares Risiko, auf ein beeinflussbares und somit unbegrenzt manipulierbares Medium fremder, selbstsüchtiger Energien, zufriedengestellt und wohl versorgt mit Brot und Spielen? Graut es ihn dennoch unbewusst vor sich selbst? Sucht er vermeintliche Sicherheit im Kollektiv, das ihm eine geistige Heimat bietet und ihn der Hinterfragung des Unbekannten enthebt? Wie anders lassen sich irreale Massenpsychosen, unmäßige Hass-tiraden und Ängste ganzer Volksgemeinschaften erklären, als mit obstruierender Vorenthaltung eigenen Denkver-mögens? Es entmutigt gewiss, unliebsame Gedanken weiterzuverfolgen, und man beginnt zu verstehen, warum sich ein regendes Gewissen dagegensträubt. Der innere Zwang zur Verdrängung wird übermächtig, sobald man intensiv nach Wegen der Abhilfe sucht. Endlich beginnt man zu begreifen, warum der exegetische Verstand gegenüber den affektiven Heilslehren und selbst dem eigenen Bauchgrfühl in der Regel auf verlorenem Posten steht. Der Fluchtinstinkt einer längst vergessenen Evolutions-periode zwängt sich ins sträubende Unterbewusstsein. Aber Flucht wohin?

  Will der also Bedrängte, allen Bedenken zum Trotz, diese Aufgabe empirisch angehen, käme er nicht umhin, das angestrebte Verhältnis zu seinem persönlichen Lebensbereich, zur Natur, zu „Gott und der Welt“, grundlegend zu eruieren, denn dort liegen notwendigerweise die Antworten auf sein Problem verborgen. Alsdann, vor der löblichen Suche nach diesem Lebensziel im großen Weltengetriebe, würde er bald feststellen, dass er zu Beginn unzählige Auswahlkriterien und Vorgaben zu beackern hätte, was sich ihm von vornherein als ein ebenso aussichtsloses wie unnützes Unterfangen darstellen müsste.

  Sollte er sich zuvorderst der Anthropozentrik verpflichtet fühlen, die den Menschen in den Mittelpunkt des Universums stellt? Zu eng gedacht? Oder sich doch lieber in den Dienst der Pathozentrik stellen, die alle leidensfähigen Lebewesen einbezieht? Sich gar der Biozentrik verschreiben, die alles, was da lebt einschließt? Als da wäre auch noch der Holismus, der kurzum alle natürlichen Dinge umfasst. Derart konfrontiert, mag er vielleicht erahnen, dass er einer Vorbedingung zur end- und ergebnislosen Langeweile aufzusitzen droht, nämlich alles ohne Ausnahme verstehen zu wollen.

 

  Also im tiefsten Innern verunsichert und desillusioniert, wird er wohl seinen Forschungsdrang zurückdrängen, wenn er nicht der totalen Lebensunlust anheimfallen will. Er wird seinen eigenen Weg erkennen wollen als das eigentliche Ziel seiner Reise, dabei sich auch immer wiederfinden als Leidtragender fremder Einflussnahme und, am Ende geläutert in lebensnaher Praxis durch Wagnis und Irrtum, seine Lebensaufgabe erfüllen.

 

  Es bleibt also - zwangsläufig - alles dort, wo es schon immer seine Heimstatt besaß: bei der doch allzu vertrauten Egozentrik.

 

 

updated 21. März 2018