Darf es etwas mehr sein?

 

 

Manchmal wird es einfach zuviel! Da eskaliert der vertraute Wahnwitz, der in den allgegenwärtigen Medien kommentiert wie unkommentiert seinen Niederschlag findet, gelegentlich zu einem Tsunami von barbarischer Wucht, der den arglosen Konsumenten am Selbstverständnis der gesamten „Schöpfung“ im allgemeinen und an der Rationalität menschlicher Verhaltens-weisen im besonderen zweifeln lässt. Trotz allem: Wer sagt da, dass es in der Welt ganz und gar „vernünftig“ zugehen muss?

  Zum Einwand, dass es nicht genüge, nur gegen etwas zu sein, sondern man müsse dann auch Lösungen anbieten, sei hier vermerkt, dass dies zwar sachlich zutrifft, die Lösung aber nicht immer dort zu suchen ist, wo man sie krampfhaft finden zu müssen glaubt: etwa Schulden durch immer neuere Schulden in den Griff zu bekommen oder das gleiche Geld mehrfach zu verleihen. Hierzu Albert Einstein (1879-1955):

 

       Probleme kann man niemals mit denselben Denkweisen lösen, durch die sie entstanden sind.

 

  An den „närrischen Tagen“, der auch so genannten „fünften Jahreszeit“, wagt sich der ehedem eingeschüchterte Zeitgenosse hinter der schützenden Maske der Anonymität aus seiner Lethargie hervor, befeuert von berauschenden Treibmitteln, hinein in eine epidemische Aufmüpfigkeit und Ausgelassenheit. Mit einem zeitlich-, finanziell- und fantasieabhängig begrenzten Ausflug dabei dem durchaus legitimen und nachvollziehbaren Bedürfnis genügend, das ihm als erlösendes Klistier eine kurzzeitige Erleichterung aus seiner Beklemmung verschafft, bevor er wieder verkatert die Rückkehr in die ungeliebte Normalität antreten muss. Der zugeknöpfte „Muffel“ tut sich damit leichter, hat unter normalen Bedingungen dafür jedoch auch weniger „Spaß“.

  Eine Begutachtung beider Herangehensweisen wurde meines Wissens noch nicht wissenschaftlich durchgeführt und sei mit seinem Befund dahingestellt. Der Mensch in seiner Mehrheit - soviel darf als sicher gelten - fühlt sich augenscheinlich ohne den Anspruch auf einen ihm zugestandenen Grad von Verrücktheit eben nicht als Mensch.

 Ob mit oder ohne Notventil, der Mensch bleibt, wie er ist. Gelegentliche Eruptionen der sich zu Eigen gemachten Fassadenexistenz liefern den dankbaren Humus für Romanautoren, den Boulevard und Polizeiberichte. Mit wachsender Bevölkerung und immer dichterer Vernetzung verstärkt sich analog die Progression des gelotsten Irrsinns. Interpretierende Untersuchungen über Befindlichkeiten und ernstzunehmende Tendenzen, die anhand ausgewerteter Erfahrungen darüber Auskunft geben könnten, wohin das alles führen könnte oder sollte, sind selbst über größere Zeiträume hinweg nicht auszumachen. Im Gegenteil. Man darf also getrost davon ausgehen, dass diesem ganzen Tun und Treiben keinerlei tieferer Sinn noch irgendwelche Absichten von weltrettender Beträchtlichkeit zugrunde liegen. Nein, es geht mir nicht um jenen organisierten Frohsinn hierzulande, der eine Lanze brechen will für eine entkrampfende Aufarbeitung des Irrationalen.

  Beklemmende Schattenbilder erzeugen Erinnerungen an weit zurückliegende prähistorische Rituale, wo sich, von unerklärlichen Naturgewalten aufgeschreckte Steinzeitler mittels bizarrer Praktiken des Wohlwollens rachsüchtiger Fabelwesen versichern zu können glaubten. Und doch geschieht es, heute, in einem Land, das Satelliten ins All schickt und als Atommacht und aufstrebender global player sich anschickt, die Geschicke dieses Planeten entscheidend mitzubestimmen.

 

  Maha Kumbh Mela rief dieser Tage als größtes religiöses Fest bis zu 30 Millionen (!) gläubige Hindus zum Bad in den „heiligen“ Wässern am Zusammenfluss von Ganges, Yamuna und dem mythologischen Saraswati auf. Hier entsteht die größte Menschenansammlung aller Zeiten. Die zu dieser Jahreszeit kalten Ströme, belastet durch unbehandelte Abwässer aus Industrie und Landwirtschaft, vermögen es auf geheimnisvolle Weise, bei den angereisten Pilgern großartige Urinstinkte zu wecken. Sie reichen von der gefühlten Rückkehr in den Mutterschoß der Erde (warum gerade hier?) bis hin zur seelischen Wiedererweckung, zu Entspannung, zu Belebung, ja zur Erleuchtung. Universale Wellness für alle, glaubt man den Betreibern.

  Die logistische Leistung eines solchen Massenspektakels nötigt gehörigen Respekt ab, erst recht in Anbetracht der vernachlässigbaren Kollateralschäden. Da ist man hierzulande anderes gewöhnt. Auch hier und heute nicht mehr vorstellbar, welche Wortgewandtheit vonnöten ist, vernunftbegabte Menschen vom Sinn einer solchen Aktion zu überzeugen. Aber zu welchem Ende? Wie wirkt sich diese geballte offiziöse Emotionalität aus? Wird damit die Welt eine andere, bessere? Was kommt als nächstes? Ist es legitim, hier eine gewisse Patallelität zu Fußballfesten und Rockkonzerten zu vermuten? Die Erfahrung konstatiert allenfalls eine unumkehrbare Zementierung festgefügter Rituale im Sog einer Massenpsychose, deren dynamische Wucht sich ratioalen Deutungsversuchent verweigert. Und das macht Angst.

  Andernorts andere Millionen im Aufruhr, versinkend in Hass und Gewalt, ohne Sicht auf ein zweckdienliches Mirakel, das einen Ausgleich unvereinbarer Gegensätze möglich erscheinen ließe, immer wieder scheiternd an der Hartleibigkeit eines undurchdringlichen Wahns, erzeugt aus dem Gebräu ideologischer Hexenküchen.

Doch Gemach. Nicht alles das vollzieht sich nur in entlegenen geographischen Randzonen.

  Der zeitgleich erklärte Rücktritt Papst Benedikts XVI. wirft mit seinen weltweiten Reaktionen ebenfalls grelle Schlaglichter auf einen uralten Anachronismus unserer, an den Konsequenzen der Aufklärung immer noch laborierenden Wertegemeinschaft. Mit noch einem Bein in der mystischen Welt des Mittelalters stehend, tut sich unsere hochindustialisierte Gesellschaft sichtlich schwer mit der überfälligen Entmythologisierung von Lehre und Wissenschaft. Stattdessen auch hier Vorgänge, die sich unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit der öffentlichen Hinterfragung erfolgreich widersetzen. Traditionen und exegetische Auswüchse drängen jede unangestrengte, lautere Gedankenfolge in den Sumpf eifernder Glaubensderivate, die, dem allgemeinen Zugang weitgehend entzogen, den vernebelten Interessen ihrer Nutznießer zuarbeiten.

  Ein Papst dankte ab. Aus Altersgründen. Das hatte vor ihm so noch keiner getan. Respekt und Verständnis allenthalben, sowohl für ihn als auch für seinen Vorgänger, der sich damals anders entschieden hatte. Jedem das Seine. Doch wie so oft, zeichnet sich im Nachhinein mit dem Bekanntwerden neuer Sachlagen ein gänzlich anderes Bild eines korrumpierten Ordnungsprinzips ab, das zu zügeln keinen papam  im vertrauten Sinne erfordert, sondern einen „Paten“.

  Für die katholische Kirche müssen die in den vergangenen Jahren erlittenen Vertrauensverluste mit massenweisen Kirchenaustritten schmerzlich sein. Die nicht enden wollenden Missbrauchsvorwürfe, deren Vertuschung und die Verschleppung ihrer Aufarbeitung, die Hilfeverweigerung für ein Vergewaltigungsopfer an zwei katholischen Kliniken und das späte Einlenken der Bischöfe angesichts des drohenden Verlustes staatlicher Finanzierungshilfen für ihre Institute: Alles das ist kaum dazu angetan, ernsthaften Besserungswillen erkennen zu lassen. Und dann noch weitere Enthüllungen im Zuge einer ausufernden „Vatileaks“-Affäre!

 Die Aufdeckung dubioser Schwarzgeldgeschäfte bei der Vatikanbank ist schlimm genug; die Verweigerungs-haltung des verantwortlichen Aufsichtskardinals bei der Aufklärung durch Auskunftsverweigerung spricht Bände. Damit nicht genug.

  Das Bekanntwerden „unsauberer Einflüsse“ auf Mitglieder der Kurie und ein verzahntes, übergreifendes, durch „sexuelle Ausrichtung“ verbundenes Netz von Lobbyisten mit Finanzinteressen, setzt alledem noch die Krone auf. Im Klartext: Da feierte in der „Ewigen Stadt“ bislang ungestört ein nunmehr aufgeflogenes Schwulen-Netzwerk mit organisierten Sextreffen fröhliche Urständ! Hiervon habe man aus dem Kardinalskollegium heraus den Papst in Kenntnis gesetzt. Mit einer solchen Hypothek auf dem Schreibtisch, habe Benedikt XVI eine Woche vor Weihnachten beschlossen, die Segel zu streichen. Wer könnte es ihm verdenken? Wäre der Stuhl Petri ein Arbeitsplatz wie jeder andere, die Beurteilungen über das Wie und Warum wären wohl ebenfalls andere. Der Papst als oberster Chef einer Organisation von 1,1 Milliarden Mitgliedern, ist als deren Vorstandsvorsitzender in der Tat alleine schon deswegen ein mächtiger Mann. Normalerweise. Doch da wäre noch etwas: „Stellvertreter Gottes auf Erden“. Das hat nach unserem Wertekanon noch eine ganz andere Qualität als etwa ein Aufsichtsratsvorsitzender. Für den Nichtgläubigen liegt in diesem Anspruch eine solch ungeheuerliche Anmaßung, dass jede wie auch immer definierte Stellvertreterfigur kläglich scheitern muss.

Wie viel mehr müsste das wohl erst für einen Gläubigen gelten? Wer sich ein wenig mit der Geschichte der Kirche und des Papsttums beschäftigte merkt: Da menschelt es kolossal. Und man fragt sich angesichts der vielen unausweichlichen und immer wiederkehrenden Reformen im Kirchengeschäft, ob auch Gott seine Meinung hin und wieder ändert? Können tut er ja alles.

  „Wie Du warst vor aller Zeit, so bleibst Du in Ewigkeit“ heißt es in einem Kirchenlied aus meiner Kinderzeit,

an das ich mich erinnere. Gemeint war Gott – wer sonst. Soll man nun lachen oder weinen über die kruden und tölpelhaften, gleichzeitig auch sophistisch überspannten und vergeblichen Anstrengungen seines Bodenpersonals, das alles endlich ein für allemal auf die Reihe zu bekommen? Und wer haftet?

  Manchmal wird es wirklich zuviel.

updated 20. Oktober 2016