Brexitus

 

 

   Die Angst geht um. Hier und da, zuletzt überall. Doch dem Himmel sei Dank, dass es Journalisten gibt, die uns diese rätselhafte Welt erklären können!

   Schreckgespenst Nationalismus. Hochkonjunktur für Populisten und einfache Antworten. Und eine verseuchte Medienlandschaft in Erklärungsnot über ein eingetretenes Nicht-Sein-Könnendes. Dazu Ratlosigkeit über eine selbstgezimmerte Scheinwelt voller Widersprüche. 

   Kommentator Groscurth versteigt sich im "FRÄNKISCHEN TAG" in Häme über den Ausgang eines Plebiszits in einem befreundeten Nachbarland, das "der Dummheit auf den Leim“ gegangen ist und infolgedessen nicht nur sich selbst dem Untergang geweiht, sondern auch der großen Kontinental-Union die Prophesie einer schlimmen Zukunft eingebracht hat. Übertrieben? Im Originaltext heißt es:

 

   „Eine kleine unbedeutende Ansammlung von Aktivisten, Populisten und Nationalisten hat die Bürger aufgestachelt und England aus Europa getrieben - gegen den Premierminister, gegen den Rat von Experten, Politikern und befreundeten Nationen.“

 

    Starker Tobak fürwahr. Ob der, in dem auf der Titelseite des Blattes veröffentlichten Hetztirade, fühle ich mich in jene unseligen Zeiten von Reichspropagandaministerium, Völkischem Beobachter, Stürmer und dem „Scharzen Kanal“ zurückversetzt, zu jenen „Feindbildern“, die man angeblich zu bekämpfen vorgibt. Doch der Reihe nach.

 

  Es beginnt beim Krieg der Wörter. Eine alte Volksweisheit besagt, dass wenn zwei dasselbe sagen, dies nicht notwendigerweise auch dasselbe sein muss. Auch heute dient die alttestamentarische Sprachverwirrung als effektives Mittel der Propaganda allerorten. Als dankbare Beispiele seien hier ,Hetze’ und das Adjektiv ,populistisch’ angeführt, von der gesamten Medienwelt als abwertendes Prädikat bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit unters Wählervolk gestreut. Die in diesem Sinne angesprochenen Formulierungen definiert das Deutsche Universal Wörterbuch als unsachliche, gehässige, verleumderische, verunglimpfende Äußerungen und Handlungen, die Hassgefühle, feindliche Stimmungen und Emotionen gegen jemanden erzeugen oder betreiben.

 

  Auch der hofierte Normalbürger, von der ursprünglichen lateinischen Herkunft der Vokabel meist ahnungslos, weiß inzwischen, dass damit etwas negatives gemeint ist. Die Ableitung von poularis - populär, zum Volk gehörend, volkstümlich, wurde im politischen Sinne über den Populismus ,weiterentwickelt’ zum vom Opportunismus geprägten Terminus, sich also von der Volksnähe wandelnd zur Demagogie mit dem Ziel, durch Dramatisierung von Zuständen die Gunst der Wählermassen zu gewinnen. Es fällt auf, dass sich die populistische, negativ belastete Zuordnung in der Gegenwartspolitik ausschließlich auf das ,rechte’, also nationallastige Szenarium beschränkt - als Altlast unserer dilettantenhaften Vergangenheitsbewältigung. Die zahlenmäßige Überlegenheit ebenfalls um die Wählergunst buhlender Links- und Moralpopulisten wird sich deshalb einer Affinität mit der ungeliebten populus-Vokabel erwehren. Man darf sich auch hier seine eigenen Gedanken über die Rolle unserer popular-medialen, freiheitlichen Berichterstattung gönnen. Immerhin weiß man andernorts (noch) zu differenzieren. Der aktuelle Wahlsieg der schweizerischen SVP wurde deren ,rechtskonservativen’ Positionierung zugeschrieben. Es geht also auch anders!

  Neuerdings wurde in einer amerikanischen Buchveröffentlichung eine etwas weniger sperrige Deutung des Populismus mit seinem „moralischen Alleinvertretungsanspruch“ expliziert. Dies würde die Fronten völlig umkehren.

  Die anstehende Debatte um zeitgeistbezogene Moralprinzipien trägt mit dem Schreckgespenst ,Moralimperialismus’ das Potenzial des Gesinnungsterrors in sich, wie Entwicklungen der jüngeren Geschichte eindrucksvoll veranschaulichen. Moral als Stützkorsett der Denkfaulen: Unkritisches Ausleben ,heiliger’ Doktrinen hat uns in die konsensunfähige Sackgasse geführt, was weiterhin Schlimmstes befürchten lässt. Wenn sich unser unfreiwillig zusammengedrängtes Kulturkonglomerat einer folgerichtigen Talibanisierung unserer Zivilisation erfolgreich erwehren will, wird es ohne eine schmerzliche Entrümpelung lebensfremder Gesinnungsmodelle und einer universell gültigen Definition des schwammigen Moralbegriffs leider nicht herumkommen. Wohl nicht selten verbirgt sich dahinter einfach Trägheit, sich unnötig Widerspruch und Ausgrenzung auszusetzen. Es verdeutlicht sich immer mehr, dass ein wieder ins öffentliche Blickfeld gerücktes Vokabular wie ,Hetze’ und ,dumpfer Hass’ nicht ausschließlich der ,rechten’ Szene zuzuordnen ist. Ich möchte meinen Ausführungen noch ein Zitat von Jean-Jacques Rousseau hinzufügen:

 

  Der moralische Zustand eines Volkes ergibt sich weniger aus dem absoluten Zustand seiner Mitglieder als aus ihren Beziehungen untereinander.

 

  Seit zweihundert Jahren - leider - ,in den Wind’ gesprochen.

Eine weitere Behauptung bedarf eingehender Prüfung. Originaltext Groscurth:

 

  „Wollen wir allen Ernstes, dass Voksentscheide in unserem politischen System mehr an Bedeutung gewinnen?/.../Argumente fallen bei solch angeheizten Debatten wie dem Brexit durch - und stattdessen gewinnen diffuse Ängste und Stimmungsmache die Oberhand./.../ Es muss Aufgabe der Politik bleiben, Entscheidungen zu zu treffen, Verantwortung zu übernehmen und dem Volk Rede und Antwort zu stehen...“

 

 

   Ja, wenn sie es nur täten! Die Entscheidung der Grundgesetz-Väter war weitgehend beeinflusst von den traumatischen Verletzungen der beiden Weltkriege: Einer Demokratie ohne Demokraten und eines Versagens der demokratischen Instutionen. Seitdem hat sich viel geändert, so viel, dass die politischen Umfelder nach den beiden Katastrophen zu dem der heutigen Bundesrepublik nicht als „von gleicher Geltung" betrachtet werden können. Inwieweit unsere politischen Mandatsträger sich den Einflüssen „populistischer“ Strömungen, dem persönlichen Ehrgeiz und den Mechanismen der „Märkte“ zu entziehen vermögen, möchte hier unbeantwortet bleiben. Erfahrungsgenäße Eingeständnisse des Versagens nach Pleiten, Pech und Pannen sind allenfalls als Weiterreichung von den oberen in die niederen Verantwortungen erkennbar - wenn überhaupt.

 

  Es verbleibt ein Rätsel, inwiefern der Bürger einer minimalen Minderheit von politischen Entscheidungsträgern eine höhere Vertrauenswürdigkeit zu schulden habe als dem Votum von -zig Millionen Wählern. Alle Macht geht vom Volke aus. Auch wenn es manchen zu dämlich scheint, dort die „richtige“ Wahl treffen zu können.

 

 

 

 

  Man mag darüber streiten, ob die Freiheit mit all ihren Verpflichtungen und Risiken ein höheres Gut sei als die Aufgehobenheit in der Hängematte einer fragwürdigen Sicherheit im wetterwendischen Massenkonsens. In den meisten Fällen wird die Wahlentscheidung bereits im Vorfeld getroffen, noch bevor sie sich dem Einzelnen in ihrer ganzen Tragweite gestellt hat.

 

 

Herbst 2016