Nie wieder Krieg?

Benjamin Schulz

 

  Alles ist heute anders. Zurückblickend schaut man in eine Welt, die uns Älteren selbst fremd geworden ist. Und da entdecke ich in mir das Aufkeimen einer nostalgischen Anwandlung, die mich zunächst verblüfft – geht es mir heute doch unendlich viel besser als „damals“. Es sind nicht nur die schönen alten Autos, in denen man seinerzeit den Führerschein machen durfte und darin seine ersten Liebschaften umherchauffierte, nicht die bunten, putzigen Omnibusse und die alten Schlager, die einen sentimental werden lassen. Es sind vornehmlich die wunderschönen jungen Damen von einst mit ihrer Mode und den kunstvollen Frisuren, Petticoats und Wespentaillen, einem heute verschüchtert anmutendem Charme und der Art, wie sie sich in der Öffentlichkeit bewegten und auftraten. Und tatsächlich: So etwas vermisst man heute im Straßenbild. Verschwunden auch die respektvolle Zurückhaltung im Umgang miteinander und die ungezierte Achtung der persönlichen Intimsphäre im Alltag.

 

  Doch was, in drei Teufels Namen, hat die gesamte Gesellschaft und uns in unserer Wahrnehmung derart nachhaltig so verändert, dass unsere Enkel uns nicht mehr verstehen können – und wir sie auch nicht?

 

  Jeder von uns, der den letzten Krieg, jenes heute für viele kaum noch vorstellbare Hölleninferno, hierzulande miterlebt hat, kann jene Erfahrung, nach 70 Jahren Frieden im politischen Gedenkkalender wieder in den öffentlichen Fokus gerückt, und die daraus gewonnene und fast vergessene Maxime „Nie wieder Krieg“ nur von ganzem Herzen nachempfinden. Für uns Überlebende war sie damals wie heute ausnahmslos Bekenntnis und verpflichtendes Gebot. Alternativlos. Die markige Verwünschung eines einstigen bayerischen princeps patrieae über die Trümmerfelder hinweg, dass jedem Deutschen die Hand abfaulen solle, der noch einmal eine Kriegswaffe berührt, ist längst verhallt. Gandhis Mahnung, dass uns die Geschichte lehrt, dass sie uns nichts lehrt, ebenso. Gründe für die berechtigten Zweifel an der Geschichte als Lehrmeister, lassen sich jedoch auf vielerlei Weise begründen. Was ist geschehen?

 

 Am augenfälligsten reflektiert die Qualität unserer Unterhaltungsformate die Veränderungen im täglichen Miteinander. Das Ergebnis macht betroffen und offenbart, dass sich das Leben nicht mehr als Faktum darstellt, sondern nur noch als Spiegelbild in den Wahrnehmungen der jeweiligen Akteure und ihrer Betrachter.

Jeder hat „seine“ Wahrheit gefunden, ergo irrt der andere. Von lückenhaften Überzeugungen dominierte Meinungsshows verärgern mit unproduktiver Rechthaberei den Zuschauer mit Konfrontationen anstatt Aufklärung, ohne am Ende noch den Mut für ein ehrliches Eingeständnis aufzubringen, zu einer sachlichen Analyse, geschweige denn zu einem Konsens nicht mehr fähig zu sein. Man zelebriert eigenes Unvermögen.

 

  Wer den Werdegang der Unterhaltungsmedien über die letzten Jahrzehnte verfolgen konnte, muss erschrecken. Die unerträgliche Überflutung mit brutalen Kapitalverbrechen, sinnentleerten Thrillern und schwachsinnigen Quizformaten mit blödelnden Dauerlachern lassen keinen Zweifel aufkommen, dass sich hierzulande eine ganze Kulturlandschaft selbst demontiert. Mit verheerenden Folgen.

 

  Das Primat gefühlsgesteuerter Ideologien, Religionen, kurzlebigem Notwendigkeitsdenken und schlechtem Gewissen hat uns einen Mainstream sakrosankten Gutmenschentums beschert, der kein vorsorgliches, rationales Denken über den Tag hinaus mehr zulässt. Ein durchschaubares, von Politik und Wirtschaft gesteuertes Credo an ein fragwürdiges, stetiges „Wachstum“ führt sich selbst ad absurdum; die Grenzen sind bereits unübersehbar in Leerständen, Insolvenzen, Verdrängungs- und Migrationstendenzen. Wunschvorstellungen nicht zu Ende gedachter Utopien, Machwerke gezimmert aus nicht kompatiblen Elementen: Sie werden ihr unvermeidliches Ende finden - zum Schaden der Demokratie und allen verführten Opfern. Die tägliche Zurschaustellung der sich in Selbstblockade übenden Pseudodemokratien gegenüber einer sich radikalisierenden Welt zeigen als perfektes Lehrstück im Inneren wie im Äußeren , wohin der Weg führt, wenn Emotionalitäten die Folgerichtigkeit rationalen Denkens ersetzt haben.

 

  Mir wird bewusst, dass wohl keine so zusammengedrängte Periode der Weltgeschichte eine solch nachhaltige Wandlung ihres Selbstverständnisses vollzogen hat, wie die von uns selbst durchlebte, vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des Säkulums. Alle haben sie dazu beigetragen: die Innovationskräfte mehrerer Generationen, der wirtschaftliche Aufschwung dank externer Hilfe samt all den sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit. Doch wie konnte es kommen, dass jetzt ganze Gesellschaftsstrukturen aus dem Ruder zu laufen drohen, dass Entscheidungen getroffen werden, die kein Mensch mehr seinen Mitmenschen erklären kann, dass sich Verflechtungen ausgebildet haben, die niemand mehr in ihrer Komplexität versteht? Eine folgerechte Zwangsläufigkeit an Entwicklungen ist eingetreten, die, unumkehrbar sich weiterentwickelt und den Menschent als Lenker seiner Geschicke entbehrlich gemacht, ja abgelöst hat? Ein Blick zurück mag einiges verdeutlichen.

 

  Es begann in der Ära des „Kalten Krieges“. Das „Gleichgewicht des Schreckens“ zwang die Kontrahenten dazu, hinter allem das Schlimmste zu vermuten, um einem Angriff wirksam begegnen und möglichst sogar zuvorkommen zu können. Jeder Machtblock musste als Überlebensstrategie versuchen, den anderen auszutricksen. Die Erfindung des Computers erlaubt es seit den Siebziger Jahren, Spielzüge zu digitalisieren, in Echtzeit sich dauernd verändernde Signale auszuwerten und nach spieltheoretischen Modellen mit atemberaubender Geschwindigkeit im Gegenzug eigenes Handeln auszurichten. Bald schon ging es nicht mehr nur um konkurrierende Militärblöcke, sondern um – alles.

 

  Denkfabriken haben jene Strategien seitdem auf alle Bereiche übertragen, in und an denen jeder gewinnen will. Dem arglosen Zeitgenossen verborgen, hat sich umfassend eine Evolution vollzogen, die dramatischer nicht sein könnte. Nach den Börsen hat sie inzwischen längst die gesamte Wirtschaft im Griff. Und nicht nur diese.

 

 Finanzmarkttransaktionen nähern sich mittlerweile der Lichtgeschwindigkeit. Maschinen vollziehen Entscheidungen millionenfach schneller als irgendein Mensch auch nur imstande wäre zu begreifen, dass er längst über den Tisch gezogen wurde. Der Kalte Krieg feiert einmal mehr fröhliche Urständ überall in unserer Gesellschaft. Das alles funktioniert keineswegs nach den Kriterien moralischer oder ethischer Prinzipien, sondern basiert auf dem Kalkül, dass man nur dann eine rationale Strategie finden wird, seinen Gegner auszutricksen, wenn man vom Schlimmsten ausgeht und sich darauf vorbereitet. Hierzu ist es unerlässlich, den Widersacher über die eigenen Absichten im Zweifel zu lassen. Autonomes Handeln verkommt so zum gezielten Täuschungsmanöver. Alles wird zum Markt und unterliegt dort eigenen Gesetzen. Bürger und Staat haben ihre Souveränität abgegeben und Finanzmärkte inszenieren ein Nullsummenspiel: Des einen Gewinn ist des anderen Verlust.

  Sieger bleibt, wer die geringsten Skrupel hat, das äußerste zu wagen.

updated 12. August 2016