Auf Geisterfahrt

 

  Hinterher ist man immer schlauer. Sagt man. Die täglichen Erfahrungen scheinen es zu bestätigen. Und nicht selten mündet es dann in der traurigen Erkenntnis: Auch Vielwisserei zeugt noch nicht von Verstand. Selbst die vielgerühmte Altersweisheit bietet da kaum eine verlässliche Firewall  gegen den Unverstand. Doch stimmt die Aussage auch, wörtlich genommen? Und wie genau definiert sich hinterher? Ein kurzer Rückblick:

  Die Deutschen sind ein Volk von Bedenkenträgern geworden. In endloser Folge werden ohne Wenn und Aber statt Argumenten Forderungen auf den Tisch gelegt, oft erstickt Selbstzweifel jegliche Initiative bereits im Keim. Auch für die Politik gilt: Wer nur redet und alles zerredet, macht sich selbst unfähig, einen klaren Kopf zu wahren und sich zu Entscheidungen durchzuringen, die das Land voranbringen sollen.

  Nur Kenntnis der Sachlage und Erkennen von Trends und Tendenzen befähigen zu Reformen. Die Parteien haben Deutschland den Stillstand verordnet. Sie gehen weder die chronischen Probleme ohne partei-ideologische Scheuklappen an, noch wagen sie bedingungslos den Aufbruch, weil dieser nicht risikolos ist und Wählergunst kosten könnte.

  Immerhin: Als unverzichtbare Forderung hat sich der Ruf nach mehr Bildung im Laufe von nunmehr nahezu vierzig Jahren, als die Diskussion unter Willy Brandt startete, in allen Parteiver-sammlungen landauf landab, konstant und unwidersprochen als Mantra heimisch gemacht. Genau so lange, wie das Land mit den weltweit ältesten Studenten und Abiturienten schon über die Schulzeitverkürzung redet. Fazit:

  Statt Leistungsdichte hat sich die so genannte Spaßschule fast bundesweit durchgesetzt. Die Leistungsmesslatte wurde zwecks angeblicher Förderung der Kreativität schrittweise herabgesetzt; die Absage an manche gängige Norm des gesellschaftlichen Miteinanders zwecks freier Persönlichkeitsentfaltung führte zur Kultivierung der Ansprüche der jüngsten Generationen bei nachlassender Leistungsbereitschaft. Im Leben aber gilt immer noch: Ohne Schweiß kein Preis. Im Mangel an Erziehung wurzeln steigende Gewaltbereitschaft, zunehmende Jugendkriminalität und andere Übel.

  Man könnte in der Tat zu dem Schluss kommen, dass aus dem deutschen Aufbruch des ausgehenden 20. Jahrhunderts ein Abbruch geworden ist. Vergessent bereits die leidige Debatte um die Zukunftstechnologie Tansrapid, die, zum Zankapfel der Parteiideologen hochstilisiert, am Finanzierungsproblem scheiterte. Das Gerangel um die Steuerreform schleppt sich bereits über 25 Jahre dahin und noch kein Ende im Disput über den Länderfinanzausgleich und das immanente Auseinanderdriften unserer Gesellschaft. Allenfalls die dringliche Rentenreform liefert eine Bühne für parteipolitische Brandstifter.

  Dass es aber nicht nur vorwärts nach gestern geht, zeigt eine bereits durchgebrachte Neuregelung. Die unnötigste von allen – die Rechtschreibreform.

  Die schwelende Finanz- und Eurokrise, lähmende Politikverdrossenheit, Vertrauensverlust auf allen Ebenen und eine sich etablierende Alternativlosigkeit politischen Handelns lassen noch Schlimmeres befürchten. Demokratie in Gefahr, über eine schleichende Infiltration ohnmächtiger Befindlichkeiten hinein in die Lethargie? Und das hat mich denn doch geschockt: Die zitierten Leitsätze entstammen einem Kommentar von Anton Palfi mit dem schönen Titel „Vorwärts nach gestern“ im „Fränkischen Tag“ vom 7. Oktober 1999!

  Was ist los in unserem Lande? Glaubt man den Parteien, so ging es uns Bürgern noch nie so gut wie heute – rundherum. Eigentlich sollten wir demnach ein glückliches Volk sein. Doch die Erfahrung zeigt, dass Wohlstand und Glücklichsein nicht notwendigerweise beisammen wohnen. Jeder, der in der Welt etwas herumgekommen ist, mag sich darüber wundern, warum er gerade in den reichsten Ländern Europas die meisten sauer-töpfischen Mienen zu Gesicht bekommt, während in den armen Ländern eine öffentliche Heiterkeit zu überwiegen scheint. Tatsächlich gab es in den achtziger Jahren eine Erhebung unter den westeuropäischen Nationen, die auf der einfachen Frage basierte: Sind Sie glücklich?  Hier erwiesen sich die Deutschen im reichsten Land als die Unglücklichsten, während die Iren und Portugiesen als Ärmste (gemessen am Bruttosozialprodukt) sich als die Zufriedensten auszeichneten. 1998 ergab eine weltweite Umfrage darüber, wie man seine persönliche Zukunft einschätzt, das gleiche Bild. In den Ländern entlang des Rheins bewerteten nur 18% der Bürger ihre Zukunft als positiv; in Südafrika waren es 42% und in Brasilien 64%.

  Es spricht vieles dafür, dass allzuviel sinnendes Grübeln dem persönlichen Glücksempfinden eher abträglich sei. Ob im Gegenzug der hieraus erwachsende Vorteil somit eher den unbedarfteren Gemütern vorbehalten bleibt? Dem Denker stünde demnach das Leiden als Ausweis seiner Fähigkeit zu tieferer Einsicht wohl zu Gesichte. Probleme, falls nicht eigens bewusst wahrgenommen, lassen sich als Markenzeichen aller so genannten Problemlöser ja auch beliebig selbst erzeugen.

  Die Klassifizierung des menschlichen Entwicklungspotenzials bemisst sich hierzulande an drei Grundbedingungen: hohes Pro-Kopf-Einkommen, hoher Bildungsstand und hohe Lebenserwartung, so definiert von Menschen, die selbst diesen Anforderungen in hohem Maße genügen. Der Landarbeiter im Kongo kann diese Kriterien in keiner Weise erfüllen. Er betrachtet hingegen nicht ohne Grund die Logik des weißen Mannes als einigermaßen wirr. Sie ist in seinen Augen lolema djola feke, eine Fledermaus, die angestrengt umherflattert, aber nicht weiß, wohin.

  Mir gefällt hierzu die Parabel von jenem Geschäftsmann auf Urlaub und dem mexikanischen Fischer, der mit einem bescheidenen Fang nach Hause kommt:

  „Warum bist du nicht länger draußen geblieben um mehr Fische zu fangen?“ fragt er den Heimkehrenden.

  „Ich will noch mit meinen Kindern spielen, mit meiner Frau die Siesta genießen und mit meinen Freunden Gitarre spielen“, lautet die Antwort des Mexikaners. Doch der Amerikaner zeigt sich unbeeindruckt.

  „Wenn du härter arbeiten würdest, könntest du dir ein zweites Boot leisten, dann eine ganze Fangflotte.

Du könntest Chef einer Gesellschaft werden, nach New York umsiedeln und sie an der Börse notieren.

Später könntest du deine Anteile verkaufen und sehr reich werden.“

  „Und dann, señor?“ fragt ihn der Fischer.

  „Dann kommt das Beste“, darauf der Geschäftsmann. „Du setzt dich zur Ruhe in einem mexikanischen Fischerdorf. Du genießt die Siesta mit deiner Frau und spielst mit deinen Kindern…“

   Was verbindet nun den gesellschaftlichen Stillstand mit dem gefühlten Unbehagen über unsere Lebensperspektive? Es deucht mir dies die schizophrene Ambivalenz unserer gesellschaftlichen Ordnung, die ihre Substanz mit unausgegorenem Aktionismus vergeudet, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wo das alles hinführen soll. Konfuzius lässt grüßen. Aber es könnte auch gefährlich werden. Und wie soll der überforderte Zeitgenosse mit alledem zurechtkommen? Mehr noch: Welchen Stellenwert darf er seiner Selbstwirksamkeit zuordnen?

  Er ist gedrängt, seine Beziehung zur Natur, den Dingen und zu seinen Mitmenschen, zu überprüfen, zu entrümpeln und mit seinen Erfahrungen in Einklang zu bringen. Ein kompliziertes, anspruchvolles Unterfangen – wenn er sich denn darauf einzulassen bereit ist und sich von seinem hedonistischen Weltbild zu lösen vermag.

  Sie bewegt mich, die Welt da draußen, und ich kann nicht auf Stellungnahme verzichten, weil eine innere Motivation in mir ein Interesse weckt, etwas dort zu bewirken. Alles hat seine Ursachen. Irgendwo.

  Man denke darüber nach, wo denn nun die Wurzeln für den eingangs beschriebenen Stillstand in unseren doch so drängenden Angelegenheiten zu suchen sind. Und warum eine immer weiter um sich greifende Apathie als Ausdruck der Überforderung durch permanente Ablenkung und eine heimtückisch gelenkte Rationalisierung unserer Verhaltensweisen uns vorwärts nach gestern  schreiten lassen.