Stille Nacht

                                        Zu Bethlehem geboren

                                        Ward uns ein Kindelein;

                                        Hat sich bei uns verloren

                                        Und ist doch noch so klein.

                                        Stille Nacht.

 

                            Da sei ein Ros’ entsprungen

                            Aus einer Wurzel zart.

                            Die Töne sind verklungen,

                            Wie das der Töne Art.

                            Stille Nacht.

 

                            Und alle Jahre wieder

                            Kommt das Christuskind,

                            Sehnsuchtsvolle Lieder

                           Verlieren sich im Wind.

                            Stille Nacht.

 

                            Ob dort überm Sternenzelt

                            So ein güt’ger Vater wohnt?

                            Der die Mühsal dieser Welt

                            Uns dereinst im Himmel lohnt?

                            Stille Nacht.

 

                            Gnadenbringende Weihnachtszeit?

                            Die Welt, die ging verloren -

                            Sie ist noch nicht so weit.

                            Liebe, stumm, zu Eis gefroren.

                            Stille Nacht.

 

                            Der Zauber dieser einz’gen Nacht

                            Verdrängtes wieder auferweckt,

                            Was längst verschüttet, jetzt erwacht

                            Und sich danach erneut versteckt.

                            Stille Nacht.

Aus "Erntezeit"

 

  Alle Jahre wieder kommt das Christuskind… Wer kennt es nicht, dieses bekannte Weihnachtslied, das wir alle aus frühesten Kindertagen auf unseren weiteren Weg durch das Lebenslabyrinth mitgenommen haben und das heute kaum noch wirklich gesungen wird. Völlig losgelöst von unserem Alltagsgetriebe fristet es ein Schattendasein in einer dunklen Ecke unseres Bewusstseins, gerade wie ein altes, verstaubtes Familienalbum, das nur noch bei ganz besonderen Anlässen hervorgeholt und andächtig betrachtet wird.

   Auf einmal ist es wieder da. Viel hat es inzwischen von seiner einstigen Popularität eingebüßt. Andere, dem Zeitgeist entsprechendere Lieder haben ihm längst den Rang abgelaufen. Aber dann bricht es mit Macht wieder auf alle die herein, die sich ein Andenken an jene Tage des Lichts inmitten einer finster gewordenen Alltagswelt bewahrt haben: Es ist wieder Weihnachten!

   Und da ist auch wieder die unausweichliche Fragestellung, wie es denn kommt, dass gerade dieses christliche Fest so viele Menschen trotz aller Verkitschung und Kommerzialisierung immer wieder aufs Neue bis ins Innerste berühren kann. Freilich bedarf es hierzu ganz besonderer Momente, die nicht selten sich als Ausnahmesituationen darstellen. Es muss etwas mit dem frustrierten Schrei nach Gerechtigkeit in einer mitleidlosen Welt zu tun haben. Oder mit einer ungestillten Sehnsucht nach Liebe, nach Wärme und Geborgenheit, nach Licht in der Finsternis – kurz nach alledem, was uns diese Welt so beharrlich zu verweigern scheint .

   Die Geburt eines Kindes aus längst verflossenen Zeiten in einem fernen Land dürfte als ganz alltäglicher Vorgang an sich kaum dazu angetan sein, die Emotionen der Menschen ohne Begrenzung durch Zeit und Raum immer wieder so zu aktivieren. Auch der Glaube daran, dass dieses Kind einen ganz besonderen Menschen darstellte, kann schwerlich erklären, was heute noch Menschen in eine so exaltierte Stimmung zu versetzen vermag. Schließlich hat ihm die damalige Welt einen kurzen Prozess bereitet und die nachfolgende schert sich herzlich wenig um sein Vermächtnis.

O magnum mysterium

   Nichtsdestoweniger geht auch heute noch unbestreitbar ein Zauber in diesen Tagen von jenem Ereignis aus, von dem wir nicht einmal mit Sicherheit wissen, ob es denn tatsächlich so stattgefunden hat. Aber das ist zumal nebensächlich.

   Die Natur bereitet jetzt in der vorweihnachtlichen Zeit die Szenerie für den Abschied von ungestümer Lebensbejahung. Kahl und modrig präsentiert sich die sonst so voller Lebenslust pralle Landschaft, über die ein feuchtkalter Herbstwind alles Getier und auch die Menschen in ein schützendes Refugium treibt. Boreas tritt seine Herrschaft an.

   „Der Ofen brummt, es schneit – du liebe Weihnachtszeit“, so beginnt ein Gedicht von Arno Holz. In den Medien überbieten sich Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Anstalten mit Aufrufen zu Wohltätigkeiten für die im Verlauf des vorausgegangenen Jahres materiell Zurückgebliebenen und der Mitmensch zeigt sich davon gerührt von seiner besten Seite. Auch da flattert mir ein Schreiben des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. auf den Schreibtisch, einer Organisation, zu der ich mich für die Pflege des Grabes meines Vaters in der fernen Ukraine zu Dank verpflichtet fühle. Einige Zitate daraus, die ich hier wiedergeben möchte, belegen dramatisch, welch ungeahnte Kraft der Geist der Weihnacht in schwersten Zeiten zu mobilisieren vermochte:

   „Weihnachten 1914. An der Front harren Millionen Soldaten in den verschlammten Schützengräben aus. Im Niemandsland zwischen den feindlichen Linien liegen die Leichen der Gefallenen, teils mit Schnee bedeckt. Doch mit einem Mal gehen auf beiden Seiten hinter den Wällen Pappschilder hoch: ,Frohe Weihnachten’ steht da, und ,Merry Xmas’. Was folgt, könnte ein Weihnachtsmärchen sein, aber es hat sich vor 90 Jahren, mitten im Ersten Weltkrieg, wirklich so zugetragen. Nach fünf Monaten Krieg mit Hunderttausenden von Toten auf beiden Seiten bricht an der Westfront von der Nordsee bis zur Schweiz der Friede aus. ,Um neun Uhr abends werden die Bäume angesteckt, und aus mehr als zweihundert Kehlen klingen die alten deutschen Weihnachtslieder’ hält ein Soldat fest. ,Dann setzen wir die brennenden Bäume ganz langsam und sehr vorsichtig auf die Grabenböschung.’

   Ein Brite schreibt seiner Frau: ,Stell die vor: Während du zu Hause deinen Truthahn gegessen hast, plauderte ich da draußen mit den Männern, die ich ein paar Stunden vorher noch zu töten versucht hatte.’ Ein anderer berichtet: ,Auf beiden Seiten herrschte eine Stimmung, dass endlich Schluss sein möge. Wir litten doch alle gleichermaßen unter Läusen, Schlamm, Kälte, Ratten und Todesangst.’ Es dauerte nicht lange, und die Feinde machen sich Geschenke, singen Weihnachtslieder und trinken belgisches Bier…Ein britischer Soldat steht plötzlich seinem deutschen Frisör aus London gegenüber, der das Gastland bei Kriegsausbruch verlassen musste. Er bekommt sofort einen neuen Schnitt. Leslie Walkinton schwärmt in einem Feldpostbrief: ,Niemals sah ich ein schöneres Bild des Friedens: Einer unserer Offiziere fotografierte uns, wie wir mit deutschen Soldaten zusammenstanden. Es war wie im Stadion bei einem Fußballspiel.’ Ein britischer Offizier scherzt, für den Neujahrstag sei schon ein Waffenstillstand verabredet worden: ,Denn die Deutschen wollen sehen, wie die Fotos geworden sind.’ Als das Fest vorbei ist, feuern sich die Soldaten zunächst noch über die Köpfe, dann geht das große Schlachten weiter. Im Jahr darauf ist Weihnachten ein Tag wie jeder andere. Befehl von oben: Jeder, der mit dem Feind ,Stille Nacht’ singt, ist sofort zu erschießen.“[1]

   Mir ist auch noch gut erinnerlich, dass in einer Verfilmung der Katastrophe von Stalingrad mich eine ähnliche Szenerie doch auch schon einmal sehr berührte. Eine Szene, von der behauptet wurde, dass sie nach unabhängigen Zeugenaussagen sich tatsächlich so abgespielt habe.

   Weihnachten 1942 verliefen die Fronten in der zerstörten Stadt quer durch Häuser und Ruinen, selbst vertikal durch die Stockwerke in den Häuserzeilen. Auf einem Trümmergrundstück hatte ein Klavier auf wunderbare Weise die allgemeine Zerstörungswut halbwegs unbeschadet überstanden. Ein deutscher Soldat hatte sich am Heiligen Abend ein Herz genommen und auf dem Instrument deutsche Weihnachtslieder intoniert, ungeachtet der damit verbundenen unmittelbaren Lebensgefahr Und siehe da: Aus den umliegenden Häusern traten die Kombattanten heraus, zuerst zögerlich, gingen aufeinander zu und stimmten gemeinsam ein in die Lieder von der gnadenbringenden Weihnachtszeit. Eine Szenerie von ebenso unglaublicher wie ergreifender Intensität. Und das, obwohl sich doch die Russen in einer Situation befanden, sich inmitten ihrer Heimat gegen einen gnadenlosen Eindringling  erwehren zu müssen.

   Viele Menschen haben diesen Film gesehen, denn er hatte sich wochenlang in den Kinocharts der Republik etabliert. Wenngleich der Wahrheitsgehalt dieser Episode angezweifelt werden muss – in der atheistisch geprägten Sowjetunion erinnerte man sich bestenfalls an das orthodoxe Pendant, das traditionell zu einem anderen Zeitpunkt stattfand und das zugehörige deutsche Liedgut zudem hier wohl weitgehend unbekannt war – so beweist selbst diese Geschichtsklitterung die hierin enthaltene sentimentale, spontan hervorbrechende Emotionalität von Menschen, die den Tod unmittelbar vor Augen hatten.

   Es verwundert kaum, dass gerade unter solch extremen Grenzsituationen Menschen sich auf etwas besinnen, das sie unter „normalen“ Bedingungen völlig verdrängt zu haben scheinen. Sind nicht die gleichen Menschen zum Kriegsbeginn unter dem Jubel der übrigen Bevölkerung ins Feld gezogen mit dem hehren Ziel, Gott, Kaiser und Vaterland den schuldigen Ehrendienst zu leisten? Ja, und auch einem „Führer“, der am liebsten die ganze Welt neu geordnet hätte – in seinem Sinne. Immer waren es „die da oben“, die die Marschrichtung vorgaben, aber im tiefsten Schlamassel an der unmittelbaren Schwelle zur unwiderruflichen Auslöschung besinnt sich das instrumentalisierte und missbrauchte Geschöpf auf seine naturgegebene Eigenständigkeit und entdeckt seine Gefühle. Man kann nicht umhin festzustellen, dass es wohl doch das Leiden braucht, um Charakter zu entwickeln.

   Nachdenklich lege ich die Post beiseite und beschließe, mich auf einen kleinen Rundgang durch die Dämmerung hinein in die weihnachtlich dekorierte Stadt aufzumachen. Der feuchtkalte Herbstwind hat sich gegen Abend hin etwas gelegt, aber der Himmel ist bedeckt und reflektiert die Lichtemissionen über dem Häusermeer mit einem diffusen Leuchten. Der Gang hinab vom Berg durch die verwinkelten Gassen führt an einer Reihe heruntergekommener Häuserfassaden entlang, die jetzt in der Dämmerung ihre abweisende Nonchalance gegen einen eher geheimnisvoll herausfordernden Charme eingetauscht haben, so als wollten sie ein mystisch eingedunkeltes Innenleben andeuten. Haust da drinnen vielleicht ein fränkischer Abkömmling des alten Ebenezer Scrooge, jenem unvergesslichen Geizkragen aus Dickens berühmten Weihnachtsmärchen?

   Wie doch das Licht eine Welt verzaubern kann! Vor der prunkvollen Fassade eines viel besuchten Barockpalais hat sich eine dichte Menschentraube um eine weibliche Figur in Nachtwächtermontur samt Hellebarde und Laterne gruppiert und lässt sich allerlei Absonderliches berichten von den Menschen, die hier einmal vor langer Zeit lebten. Ja, wie war das damals noch so richtig romantisch - ohne elektrisches Licht, ohne Fernsehen, Computer und Handy. Und ohne Stress und Burnout. Doch, Burnout gab es auch damals, allerdings nicht als Syndrom, sondern als Reality Show. Ja, und von wegen stressfrei: Hat nicht Jesus in jener Nacht am Ölberg Blut geschwitzt? Ob die da alle ahnen, dass sie gerade jetzt in der guten alten Zeit Leben, wenn sie sehr viel später einmal an heute zurückdenken?

   Über Plätze und Brücken hinweg bin ich im Herzen der Stadt angelangt. Die Schaufenster sind hell erleuchtet und mit den traditionellen Weihnachtsrequisiten ausgeschmückt. Über den Straßenschluchten tauchen Lichtinstallationen im Sternendekor den gesamten öffentlichen Verkehrsbereich in ein festliches Ambiente. Ganz anders das alles als „sonst“. Wo in den gemäßigteren Jahreszeiten kaffeeschlürfende Flanierer ihren strapazierten Füßen etwas Rast in den Straßencafés gönnen, stehen nun dichte Menschenknäuel unter Heizstrahlern in angeregtem Gespräch beisammen.

   Hier fließt der Glühwein als inzwischen etabliertes, nicht mehr wegzudenkendes Kultgetränk in allerlei Varianten allabendlich in Strömen durch erwartungsvolle Kehlen und verbreitet durch seine mehrgestaltige Wirkungsweise irgendwie gefühlte – Weihnachtsstimmung. Dazu noch der süßliche Duft von Hochprozentigem, Gewürzen und gebrannten Mandeln. Entspannte Wohlfühlatmosphäre nach getätigter Arbeit, der Odyssee durch die überbordenden Konsumverlockungen allenthalben oder nach stressigem Geschenkekauf. Warum nicht?

   Auch hier zelebriert man die enge Wesensverwandtschaft mit der zwar allgegenwärtigen, aber doch irgendwo im Hintergrund abgelagerten Weihnachtsutopie aus grauer Vorzeit. Dabei kann ich mich aber des Gedankens nicht erwehren, dass es eigentlich überhaupt nicht des ursprünglichen christlichen Auslösers bedurft hätte, um dieses menschliche Bedürfnis nach Licht, Wärme und Nähe auf naheliegende Weise zu bedienen, was ja auch die vielen Wahlmöglichkeiten vermuten lassen. Schließlich sind ja weder Christbaum, Weihnachtsmann noch Lebkuchen, Glühwein und das androgyne, vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierte Christkind samt den ganzen Festtagsorgien auf eine originäre Legitimation im christlichen Sinne zurückzuführen. Da mischt sich so vieles unter, dem aber wohl auch andererseits der ununterbrochene Fortbestand dieser flexiblen Tradition zu verdanken ist.

   Das einzig konstante – sagt man – sei die Veränderung, der sich alles zu fügen hat. Wie wird demnach die Weihnachtszeit wohl in fünfzig Jahren gefeiert? Wird der Mensch sich dann immer noch selbst im Wege stehen? Gewiss, die Zeiten haben sich geändert, selbst in der kurzen Zeitspanne, in der es mir vergönnt war, dabei zu sein. „Früher“ fügte man sich zumindest widerstandslos in sein Schicksal, wenn die Obrigkeit es für an der Zeit hielt, einem erklärten „Feind“ zu zeigen, auf wessen Seite sich Gott begeben hatte, um der gerechten „Sache“ zum „Sieg“ zu verhelfen. Da war es „denen da oben“ zu eng geworden. Inzwischen ist die Weltbevölkerung auf geschätzte sieben Milliarden angewachsen. Bald werden es zehn sein, und dann wird es „denen unten“ auch eng werden, denn die drängen alle nach, dorthin, wo nach ihrem Verständnis Milch und Honig fließen.

   Dank Weihnachten: Wellness für alle? Nein, kein noch so kühner Optimismus scheint mir hierzu berechtigt. Nicht umsonst zeigt sich gerade diese Zeit der Besinnlichkeit und der Gaben für alle die, die sich von ihr ausgeschlossen fühlen, als die belastendste überhaupt, die Tausende nicht mehr zu ertragen vermögen. Jedes Jahr.

Inzwischen habe ich über eine stille Seitengasse den Fluss erreicht, über den ein schmaler Fußgängersteg hinüberführt zu einer ehemaligen Schlossanlage. Hier bewegen sich nur vereinzelt dunkel gekleidete Gestalten hinüber ins Zentrum, hin zum Licht und den verführerischen Düften. Wenn man hier öfters am alten Kanal entlang schlendert, kann man mitunter auch einmal einer Ratte begegnen, die am Ufer entlanghastet oder sich für den Weg durchs Wasser entscheidet, um dann irgendwo im Ufergehölz zu verschwinden. Diese Tierchen sind in ihrer Funktion als natürliche Gesundheitspolizei recht scheu und treten in der öffentlichen Wahrnehmung kaum hervor.

   Da kommt mir spontan das Märchen vom Rattenkönig Birlibi von Ernst Moritz Arndt (1769-1860) in den Sinn, und mir wird auf einmal bewusst, dass ja auch unsere Gesellschaft sich keineswegs nur aus vergnügungssüchtigen Nestflüchtlingen rekrutiert.

   Da war doch jener Bauer, der des Nachts dem Fuchs seine Fallen zu stellen pflegte und dabei eines nachts des Umzugs des Rattenkönigs samt seines grauslichen Gefolges gewahr wurde, Und auch viele seiner Nachbarn gewahrte er, die säckeweise Reichtümer aus der Hand des Rattenkönigs davontrugen und den perplexen Voyeur aufforderten, doch auch zuzulangen. Da konnte der nicht widerstehen. Es blieb nicht bei dem einen Male, und der Bauer wurde damit im Laufe der Zeit sehr vermögend, bis ihm eines Tages doch vor diesem Procedere graute und er um sein Seelenheil zu fürchten begann. Nie wieder wollte er zur Walpurgisnacht am Umzug König Birlibis mit seinem furchtbaren Gefolge teilnehmen. Aber die fraßen daraufhin seine Äcker kahl, bis er in tiefster Armut Haus und Hof verloren hatte und als Tagelöhner endete. Nein, das ist kein modernes Märchen, obwohl…

   Auch unsere Gesellschaft verweigert einer ständig wachsenden Schicht die Teilhabe an dem, was den übrigen das Leben so süß und lebenswert macht. Man findet die ins gesellschaftliche Abseits Verbannten dieser Tage nicht in den Wirtshäusern oder vor den bunt erleuchteten Weihnachtsbuden in den Fußgängerzonen. Sie feiern die Weihnacht auf andere Weise. Ob es bei aller Unterschiedlichkeit einen gemeinsamen Nenner gibt, einen „Integrationsfaktor“, auf den die Utopie einer alles einigenden Erlösungsformel zutrifft und jene Empathie erklärt, die sich in Grenzsituationen so eindrucksvoll manifestiert, im Normalfall sich aber nur in gefühlsbetonten Belanglosigkeiten erschöpft?    

   Doch zurück zu den Ratten, jenen possierlichen Nagern, die bei manchen Menschen Panik auszulösen vermögen, ohne hierfür etwas tun zu müssen. Mir kommt der Forschungsbericht einiger Wissenschaftler an der Chicagoer Universität in den Sinn, der kürzlich veröffentlicht wurde:

   Die Forscher hielten Laborratten paarweise in Käfigen, so dass die Tiere sich aneinander gewöhnten. Anschließend sperrten sie eine der Ratten in einen durchsichtigen Behälter innerhalb eines größeren Test-Käfigs. Wie erwartet reagierte auch die andere Ratte mit Unruhe auf die Gefangenschaft ihres Gefährten. Nach einigen Versuchen lernten die freien Ratten, die Gefängnistür zu öffnen. Sie halfen ihren Gefährten hinaus, öffneten jedoch nie die Tür für Stoffmäuse oder andere Gegenstände. Das Verhalten ging weit über alle bisher beobachteten empathischen Verhaltensweisen bei Nagetieren hinaus, berichteten die Forscher. Die Ratten befreiten ihre Gefährten meist schnell und auch dann, wenn diese nicht in den gemeinsamen Käfig, sondern nach außen entlassen wurden. Es gab also keine Belohnung in Form eines sozialen Kontaktes.

   Selbst wenn die Ratten die Wahl hatten, entweder ihren Gefährten zu befreien oder mit demselben Trick einen Behälter mit Schokolade zu öffnen und diese allein zu vernaschen, wählten sie die Befreiung. „Sie hätten zuerst die ganze Schokolade alleine fressen können. Stattdessen öffneten sie ebenso oft zuerst die Käfigtür und teilten sich die begehrten Süßigkeiten. „Das sagt uns, dass die Befreiung ihres Gefährten für sie auf einer Stufe mit Schokolade stand“ erläuterte Peggy Mason. „Das hat uns wirklich überrascht.“

   Die Ratten erkannten nicht nur die Notlage ihres Artgenossen. Sie behielten auch einen kühlen Kopf und handelten, um diese Situation zu beenden – und das, obwohl sie keinen direkten materiellen oder sozialen Vorteil davon hatten. Das zeigt nach Ansicht der Forscher, dass uneigennützige Hilfe tief in der Evolution verankert sein muss.

   Sollte hier, weit zurück in unserer evolutionären Vergangenheit die Wurzel für uneigennütziges, solidarisches Handeln zu suchen sein, das in Extremsituationen noch auf unerklärliche Weise hervorbricht, sonst unserer Spezies im weiteren Verlauf unserer Entwicklung aber weitgehend abhanden gekommen ist? Wären also demnach die Ratten die besseren Christen? Ein provokanter Gedanke, aber kein abwegiger…

   Den Weg zurück nach Hause beschäftigen mich immer weitergehende Folgerungen des einmal aufgenommenen Gedankens. Den von der Weihnacht.

   Bald ist es wieder soweit. Meine liebe Frau und ich werden uns bei Einzug der Dämmerung am Heiligen Abend zum Hauptfriedhof auf den Weg begeben, wie wir dies schon seit Jahren zu tun pflegen. Hier bringen Stadtkapelle und Oratorienchor alljährlich feierliche Choräle am festlich erleuchteten Ehrenfriedhof zu Gehör, in die eine dem Ereignis angepasste Ansprache des Stadtoberhauptes eingebettet ist. Allein das stille Ambiente der Stätte mit ihren, an die traurigen Erfahrungen zweier Weltkriege gemahnenden Erinnerungsmalen, zwingt jeden der Anwesenden zu stiller Einkehr. Wenn zum Ende „Stille Nacht“ ertönt, die hier wohl ein jeder – und sei es nur im Herzen – mitsingt, so mag man vielleicht in dem Hymnus den Geist der wahren Weihnacht in die Winternacht aufsteigen hören.

***

   Eigentlich hätte es mit diesem Stimmungsbild sein Bewenden haben können. Aber das würde der „Causa Weihnacht“ auch nicht gerecht. Was aber dann? Gute Frage.

   Diese inzwischen weitgehend medialisierte Weihnacht immer wieder zu hinterfragen, erklärt das Bedürfnis, dieses so diverse Phänomen verstehen zu können, auch nicht zur gänzlichen Zufriedenheit. Aber vielleicht liefert gerade diese "unsere" Weihnacht den Schlüssel dazu. Sie hat unbestritten dazu beigetragen, eine biblische Begebenheit aus der Exklusivität einer Glaubensgemeinde in die Partizipierung aller hinüber zu holen. So sehen wir uns heute mit einer dialektischen Einheit komplexer Elemente konfrontiert, die zwischen Kindergarten und Mysterium angesiedelt ist. Hier wird nun der moderne Mensch genötigt, sich entsprechend seiner gesell-schaftlichen Position, seiner persönlichen Befindlichkeit, ja selbst im ungünstigen Fall entgegen seiner Tagesform entsprechend zu verhalten. Was nicht immer gelingen will. So haben wir also die Auslese zu treffen zwischen „Jingle Bells“ und „Vom Himmel hoch“, zwischen Party und Mitternachtsmesse, zwischen Familienglück und Isolierung, zwischen Geschenkeslust und –frust und stiller Einkehr. Oder zwischen Euphorie und resignativer Abkehr. Aber meistens haben wir ja gar keine Wahl – mit den bekannten Folgen. Es beweist dem nachdenklichen Beobachter einmal mehr, wie unser ganzes Leben auf Unsicherheiten gründet.



[1] Auszug aus einem dpa-Artikel von 2004

[2] dpa-Meldung vom 12.12.2011