Selbstdemontage?

 

  Hin und wieder treibt eine geheimnisvolle Kraft den Menschen dazu, über den bewussten Tellerrand seiner alltagsbefangenen Existenz hinaus einen Blick ins Unbekannte zu wagen, wohl in der verständlichen Hoffnung, dort auf Spuren höherer Weisheit zu stoßen, die zumindest andeuten könnten, dass in all dem vorgefundenen Tohuwabohu auf dieser Welt doch irgend ein erklärbares Ordnungsprinzip herrsche, das, wenn man es erst einmal verinnerlicht hätte, den Ratsuchenden zu einem verständnisvollen, aufgeklärten Anhänger der Lehre bekehren, zumindest aber als vertrauensseligen Mitläufer in die beruhigende Gewissheit zu versetzen vermöchte, im Leben endlich angekommen zu sein.

  Doch diese Hoffnung trügt. Je tiefer er in dieses vermeintliche Mysterium einzudringen wagt, desto sicherer wird er sich darin verlieren und sich um den letzten Rest seines Selbstverständnisses bringen. Weder in den überlieferten Heilslehren, noch in den Erkenntnissen der Wissenschaft wird er den ersehnten inneren Frieden finden. Hier sind es die aus drangvollen Erklärungsnöten gezeugten Widersprüchlichkeiten zusammen-geklaubter Sammelsurien aus Halbwahrheiten und Spekulation, dort die Demontage gefühlter, womöglich sogar lieb gewonnener Sinneseindrücke zu erklärbaren Zwangsläufigkeiten. Er ist verloren!

  Wie muss er sich fühlen, wenn er die Wechselwirkungen von Immunbiologie und allgemeinem Verhalten erst einmal begriffen hat? Ein Beispiel: Die Partnerwahl, Dreh- und Angelpunkt menschlicher Glücksuche, entscheidet sich nach neuen Forschungsergebnissen unbewusst über die Nase. Zumindest weitgehend. Körpergerüche signalisieren, ganz ohne eigenes Zutun, dem Rezipienten die optimale Ergänzung zu seinen eigenen Immungenen. Oder deren Unvereinbarkeit, Zwischenstadien inklusive. Hier bieten sich dem Forschergeist ungeahnte Möglichkeiten der individuellen Implementierung.

  Die Wissenschaft wäre nicht was sie ist, eröffnete sie nicht neue Wege der Einflussnahme und Verwertung.

Als Resultat zehnjähriger Forschung sieht sie sich nunmehr imstande, körpereigene Gerüche so zu intensivieren, dass auch dort weniger sensible Rezeptoren angemessen reagieren, wo ansonsten möglicherweise völlig andere, dominierende Kriterien dazu in Wettbewerb treten könnten. Noch fehlen derzeit nachprüfbare Erfahrungswerte für eine aussagefähige Erfolgsquote. Aber man wird sicher daran arbeiten. Bleibt zu hoffen, dass sich die Vereinbarkeit der jeweiligen Immungene nicht als einzige, kompromisslose Vorraussetzung für eine dauerhafte Verbindung herausstellen. Immerhin hat sie bisher offenbar – bei optimalen Vorraussetzungen - dem daraus resultierten Nachwuchs eine gute Resistenz gegen ein breites Spektrum von Krankheitserregern beschert. Es lohnt sich also, einander so ganz unbeeinflusst riechen zu können. Auch eine weitere Entdeckung verspricht, zusätzliches Licht in das Dunkel menschlicher Wetter-wendischkeiten zu bringen.

  Das „Kuschelhormon“ Oxytocin ist nicht nur nachweisbar entscheidend für die Beeinflussung emotionaler Bindungen, sondern bestimmt ausschlaggebend unser Sozialverhalten mit dem Herstellen vertrauensstiftender Wirkungen. Alles erforscht und bestätigt. Des Weiteren die ebenso erstaunlichen Eigenschaften der Botenstoffe Adrenalin, Serotonin und weiß der Himmel noch was, ob nun schon bereits bekannt oder noch für so manche Überraschung gut. Chemisch nachweisbare und messbare Substanzen allesamt. Frage: Wie viel Mensch steckt da noch im Menschen?

  Zugegeben, die Fragestellung ist zutiefst unwissenschaftlich. Wenn uns dabei nicht ganz wohl ist, beweist dies nur, dass wir es wohl doch lieber etwas anders hätten - wenn das ginge. Aber warum überhaupt diese rhetorische Frage? Und warum hätten wir es denn gerne anders? Und was änderte sich dann? Die Antwort bietet sich von selbst: Sie findet sich jeweils in der Intention, welche Antwort ich erwarte.

 Die selbstzerstörerische Wirkung einer Synthese von Verstehenwollen und Emotion offenbart sich tagtäglich und überall auf vielfältigste Weise. Das ersehnte Lebensglück bedarf keiner Erklärungen und Rechtfertigungen. Es manifestiert sich in den einfachen Dingen des Alltags.

  Und die Wissenschaft? Weder gut noch böse, überlässt sie es den Menschen, ob einzeln oder im Verbund, den rechten Gebrauch davon zu machen und die größtmögliche Ausbeute damit zu erzielen. Ihre Todfeinde sind die Ideologisierung und die gleichermaßen unverantwortliche Versimplifizierung einer ganzen Welt, mit der beide Komponenten sich diese nur allzu gerne für ihre Zwecke nutzbar machen.

  Aber man kennt das ja.

updated 1. August 2016