Guter Rat

 

   So ist das nun mal in der freiheitlichen Demokratie: Wähle oder wähle nicht. Du wirst beides bereuen. Oder wie der Entertainer Heinz Schenk es in einem populären Gedicht zu umschreiben beliebte: Wie mer’s meschd, mer meschds verkehrt.

  Doch es ist nicht nur die Politik, die uns in überschaubaren Abständen Entscheidungen abverlangt, denen dann zwar in der Retrospektive ein gewisser Unterhaltungswert nicht abzusprechen ist, uns aber ansonsten kaum in unserem Lebensrhythmus tangieren. Umso mehr und nachhaltiger berührt uns das allerdings in Angelegenheiten des täglichen Lebens, jenen hauptsächlichen Nebensächlichkeiten, in denen wir Entscheidungen zu treffen haben, die uns sehr wohl in ihren Folgeerscheinungen beeinflussen.

  Wer Freunde hat, wird in der Regel um Rat nicht verlegen sein. Eingedenk der Volksweisheit, dass dem, der sich nicht raten lässt, auch nicht zu helfen sei, könnte man dem Ratsuchenden auch ein gewisses Maß an Verantwortungsscheu unterstellen. Doch nicht jeder sucht  mutwillig den „guten Rat“.

  Da bekanntlich Argumente im Allgemeinen keinen verpflichtenden Charakter haben, sind sie deshalb auch überall wohlfeil zu haben. Bedenklich erscheint mir allerdings, dass der wohlgesinnte Ratgeber sich nicht immer darüber im Klaren ist, dass er mit seiner Beratung auch einen Wechsel ausgestellt und sich möglicherweise in ein Schuldverhältnis manövriert hat.

  Man muss nicht den klugen Satz Jean Pauls im Kopf haben, dass wer Verstand genug hat, einen guten Rat zu geben, auch meistens über genug Verstand verfügt, diesen für sich zu behalten. Man muss auch nicht an die ironische Gebrauchsanweisung von Oscar Wilde erinnern, der von sich selbst sagt, einen guten Rat immer weiter zu geben, weil es das einzige sei, was man damit machen könne. Ebenso seine elegante Begründung, dass es schon gefährlich sei, einfach nur zuzuhören. Denn wenn man zuhört, kann man überzeugt werden, und wer sich durch ein Argument überzeugen lässt, sei von Grund auf ein unvernünftiger Mensch.

  Nein, das alles braucht man nicht. Es genügt die Erkenntnis, dass es schlicht unmöglich ist, zu beweisen, dass irgendetwas wahr sei, andererseits jedoch schon, dass sich da möglicherweise jemand geirrt hat. So verwundert es denn auch nicht, dass der sprichwörtliche „Gute Rat“ quer durch die Gesellschaft eine kontroverse Beurteilung abbekommt.

  „Wer wohl gedeiht, hört auf der Freunde Rat.“ Die Lebensregel aus dem fernen Altertum hat heutzutage weitgehend ausgedient, und die Skeptiker in unserer vernetzten Welt die Oberhand gewonnen. Man kann die immer noch vorwiegend positive Beurteilung guter Ratschläge möglicherweise nur damit begründen, dass sie niemals befolgt werden. Selten treffen sie auf Gegenliebe, am seltensten wohl bei denen, die sie am nötigsten hätten. Die konsequenteste Ablehnung guter Ratschläge gipfelt denn auch in dem Rat, keinen Rat anzu-nehmen. Selbst der Philosoph Anselm Feuerbach rät: Gibt dir jemand einen sogenannten guten Rat, so tue gerade das Gegenteil, und du kannst sicher sein, dass es in neun von zehn Fällen das Richtige ist.

  Das schließt rund zehn Prozent Fehlerquote ein. Dem Autoritätsgläubigen bedeutet hier die Sicherheit mehr als der volatile Fortschritt. Doch mal ehrlich: War es nicht immer so, dass am Anfang jeden Fortschritts das Abenteuer mit ungewissem Ausgang stand? Wenn auch eine solche Sicht der Dinge kein Allheilmittel zu sein verspricht, so wohl deshalb, weil nichts so konsequent betrieben wird wie die Inkonsequenz.

  Wem also soll hier geholfen werden? Wie kann und soll der Unentschlossene handeln? Doch nur allzu oft muss  er. Es gehört zum Erfolg einer richtigen Entscheidung - wie auch zum Glück - doch immer auch eine gehörige Portion Unverfrorenheit. Eben darum wird dem Zaghaften nie etwas gelingen, was ihm oder anderen weiterhelfen könnte.

 Zurück bleibt die unbeantwortete Frage, ob man ehemals moralischer veranlagt war als heutzutage? Oder doch nur vertrauensseliger? Oder gutgläubiger? Das öffentliche Bewusstsein wie auch die Beurteilung unserer Moralität sind heute anders begründet als in der Antike. Seit der Aufklärung sieht man die Welt realitätsnaher, seit Facebook und Twitter  fallen die letzten Bastionen der Privatsphäre und mit ihnen der Glaube an das Gute im Menschen.

  Nein, die Menschen haben sich charakterlich nicht verändert. Sie waren schon immer so. Wir lernen uns nur immer besser kennen. Man könnte es auch so formulieren, dass wir uns - mit zunehmendem Alter - selbst immer ähnlicher werden...

updated 31. Juli 2016