Die Rache der Götter

 

Mit zunehmendem Alter verschiebt sich zwangsläufig mit der Wertigkeit auch die Verwertbarkeit von Nachrichten. Über den an relevanten Informationen interessierten Zeitgenossen ergießt sich lawinenartig ein Sammelsurium hauptsächlicher Nebensächlichkeiten, teils als mehr oder weniger gesteuertes Ablenkungsmanöver, teils als umsatzförderndes Füllmaterial. Die wirklich bewegenden Zeitthemen, die für die Zukunft unserer gesamten Zivilisation unumgängliche Antworten verlangen, werden aus Angst vor dem konsensabhängigen Scheitern dem öffentlichen Wachzustand weitgehend fernge-halten und in Randzonen verdrängt, die dem ahnungslosen Normalbürger so gut wie unzugänglich und auch in der Regel „wurscht“ weil zu fordernd sind. Belastender Datenmüll verstopft den nach Klarheit suchenden Intellekt und verlangt nach Wahlmöglichkeiten. In selbstschützerischer Notwehr verweigert er sich zunehmend dem Irrelevanten, Überflüssigen und Banalen. Doch auch im tendenziös aufbereiteten Rest findet sich danach immer noch allzuviel, was in seiner Substanz jeglicher Vernunft Hohn sprechen müsste. Man versucht, meist erfolglos, auch diese Klippen zu umschiffen – und ärgert sich. Es ist nun einmal da, alles das! Schlimmer noch: Die Trash-Flut verzichtbarer Hohlkultur präsentiert sich als als unzerstörbar.

 

  „Unser Leben ist besser, aber gut ist es nicht.“  Es ist das Pressezitat einer 55jährigen Moldawierin, die aus den erlebten Umbrüchen hin zu einer freiheit-licheren Gesellschaftsordnung in ihrem Land für sich kaum eine Verbesserung, geschweige denn einen Neubeginn zu erkennen vermag. Man resumiert: Jede Veränderung hat ihre Gewinner und Verlierer. Das liegt in der Natur der Sache, ebenso gewiss wie die hehre Freiheit ihren Preis hat. Eine Binsenweisheit - genauso wie das immerwährende Ringen um einen größeren oder kleineren Happen davon, niemals enden wird.

 

  FREIHEIT! Einer der missverstandensten Axiome überhaupt hat vor repressivem Hintergrund mit seinen Helden und Märtyrern alleweil Hochkonjunktur. Doch was denn Freiheit eigentlich ist, sein kann, sein sollte, darüber gibt es außer unzähligen Aphorismen als subjektive Meinungsäußerungen keine allgemein gültige, verbindliche und universell anerkannte Bestimmtheit. Wenig Dankbarkeit erheischt in der Praxis eine geschenkte Freiheit; wer hingegen für Freiheit kämpft, erhält im Erfolgsfall dafür doch nur neue Herren. So geistert denn eine idealisierte, verschwommene Chimäre als populistische Wunderdroge durch die Weltgeschichte und treibt ihre Gestrauchelten und Betrogenenen in ihrer Misere vor sich her.

 

  Freiheit wofür? Freiheit wovon? Der Ruf nach Freiheit als unsterblicher Motivationsschub, demaskiert sich in seinen individualistischen und dem Zeitgeist verschriebenen Visionen. Freiheit, die ich meine? Seit unvordenklichen Zeiten in der Historie herumspukend, erhebt er sich fordernd in seinen begrenzten Lesarten; nicht als Naturgesetz oder gar als „göttliches“ Dekret! Im unvermeidlichen Gerangel um die besseren Positionen obsiegt immer die „stärkere“ Partei, die konsequent ihre Privilegien auf Kosten der unterlegenen ausbaut und sichert. Dem Ruf nach Freiheit geht immer eine eklatante Verletzung dessen voraus, was im Kant'schen kategorischen Imperativ (Was du nicht willst, das man dir tu...) zwar seit jeher als anerkannter Verhaltenskodex unumstritten, dessen getarnte Umgehung jedoch als sportliche Herausforderung immer wieder fröhliche Urständ feiert und sogar mit gesellschaftlicher Achtung - nicht Ächtung! - belohnt wird.

 

  Am „Katzentisch“ des ethischen Gutmenschentums: Die persönliche Freiheit als Herrschaft der Vernunft in der Absenz von Begierden und Leidenschaften.

 

  Es mag trösten, dass es auch kluge Menschen gibt, deren Denken und Streben sich nicht ausschließlich dem Wohlergehen des Ego widmet - immerhin. Sinnsuche nennt man das dann. Ganz eigenständig betreibt es im Grunde jeder, unabhängig von Intelligenz, Status, Ehrgeiz, intellektueller Ausrichtung – und der Qualität der Zielvorstellung, leider aber nicht immer im altruistischen Sinne. Der wahre Sinnsuchende schürft tiefer, hofft den Sinn irgendwo entdecken zu können. Nicht wenige sind davon sogar überzeugt, ihn gefunden zu haben und wundern sich, wenn ihnen zahllose Zeitgenossen verständnislos trotzdem die Gefolgschaft verweigern, ja gegensteuern. Die erhoffte Entourage sammelt sich dann nicht selten in anderen, vornehmlich primitiveren Sphären, schreibt mitunter Weltgeschichte und treibt die entgeisterte Menschheit in neue Alpträume der Intoleranz, ins Chaos, in den Untergang. Nachtmährische Szenarien entstehen so, aber auch als tatsächlich gelebte Wirklichkeiten! Provozierendde Frage: Wer hat sich dies alles ausgedacht, sich etwa gar uns selbst ausgedacht? Religion als Christbaum der Einfältigen.

 

   Man ahnt in Abfolge, wie detachiert danach alles als sinnlos zu bewerten sein müsste, was bisher über die Zeiten hinweg gedacht, geschrieben und getan wurde, wenn immer wieder neu inszenierte Formen der Selbstzerfleischung einer Gemein-schaft, eines Staates, einer Nation, ja eines Kulturkreises nicht nur möglich bleiben und auch geschehen. Es ließe die schmerzliche Schlussfolgerung zu, dass weder Philosophie noch Aufklärung, viel weniger noch Religion etwas zum besseren bewirken und das zwingende Finitum nahelegt, dass die Weltgeschichte das Werk von Verrückten sein muss, wie das der Dichter Gottfried Benn deduzierte.

 

  Freunden wir uns also mit der Freud'schen Erkenntnis an, dass beileibe nicht alle Menschen liebenswert sind. Wie auch damit, dass die Wirklichkeit hinter den gewohnten Kulissen eine andere ist, als die, die wir uns so gerne einreden lassen - oder selbst schönreden, wenngleich wir es alle schon immer besser wussten oder zumindest geahnt hatten. Ist aus dieser Sicht die Entwicklung des alternden Menschen hin zum Misanthropen überhaupt vermeidbar? Die Frage erscheint berechtigt. Es muss sich ein jeder diese Frage selbst beantworten, spätestens wenn er einmal zu der Einsicht gelangen sollte, dass positives Denken dem Gegenteil von Denken gleichzusetzen wäre.

 

  Die Flamme des Prometheus: Was hat sie einer überforderten Menschheit gebracht, außer der Hoffnung, dass sich der Evolutionsprozess von der animalischen Kreatur zur vernunftorientierten Selbstbestimmung allenfalls in einem kritischen Zwischenstadium befindet? Kritisch, weil das Potenzial zur physischen Selbstvernichtung sehr viel früher realisiert werden konnte – weil einfacher – als die Regeln für eine zukunftsorientierte, solidarische Verantwortlichkeit gegenüber der gesamten „Schöpfung“. Mit Visionen aus prähistorischen Urzeiten strapazieren stattdessen ungeniert in ihren egozentrischen Vorstellungswelten befangene Geister das globale Zusammenleben bis an die Grenze des Erträglichen - und darüber hinaus.

 

                                    Doch Freunde, nicht diese Töne!

                                   Sondern lasst uns freudenvollere anstimmen!

 

  Schillers Ode an die Freude: Ein Aufbäumen gegen die Trostlosigkeit menschlicher Inkonsequenz? Eine funkelnde Eisblume am Fenster in kalter Winternacht: Was schert mich noch das Lachen über den Träumer, der dort Blumen im Winter sieht? Wäre das nicht die bedingungslose Kapitulation des menschlichen Geistes vor dieser hybriden Welt, sich ihren anmaßenden Spielregeln und grotesken Verheißungen widerspruchslos zu unterwerfen? Es ist der fast verzweifelte Zwangs-optimismus eines Martin Luther, der noch am Vorabend des „Jüngsten Tages“ ein Apfelbäumchen pflanzen wollte: Triumph menschlicher Größe über göttliche Armseligkeit.

30. Mai 2016