Auferstehungen

Alexandr Komarov

 

  Wieder einmal mehr hatte sich die Erde in ihrer Umlaufbahn unser Zentralgestirn, das die Men-schen Sonne nennen umkreist, so wie sie das seit über viertausend Millionen Jahren tat. Natürlich ist sie nicht mehr dieselbe wie damals, als alles noch neu und „jungfräulich“ war, wie man so sagt. Es bestünde auch kein Beweggrund, diesem Vorgang eine besondere Bedeutung beizumessen; aber dennoch: Dank des Debuts der Spezies „Mensch“ war in einem speziellen Fall - wann weiß man das nicht so genau - tatsächlich etwas ganz Außerordentliches geschehen. Zumindest in der christlich orientierten Welt: Ein Event der besonderen Art.

  Ostern. Frühlingserwachen. Auferstehung. Alle Jahre die-selben Erwartungen, dieselben Hoffnungen, dieselben Rituale. Die Natur hingegen reagiert gelassen und beugt sich geduldig den atmosphärischen, jahreszeitlichen und allen sonstigen, wägbaren und unwägbaren Gegebenheiten. Und das Wetter ist, wie es ist. Gerade das Wetter, dem wir so gerne Unbeständigkeit und Launenhaftigkeit nachsagen? Dabei folgt es doch nur naturgesetzlichen Zwängen. Und das so völlig leidenschaftslos, ohne dabei all den hoff-nungsfrohen Stimmungen frühlingsorientierter Christen-menschen ein mitleidiges Entgegenkommen zuzugestehen.

  Der Ostermensch indessen übt sich erst einmal in festlich gestimmtem Frohlocken. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche…“ oder „Winterstürme wichen dem Wonnemond…“ Die befreite Natur lässt dichterische Höhenflüge ins Kraut schießen, und eine Erwachens- und Verkündungseuphorie legt sich wie Vanillezucker auf die entwöhnte, nach Licht und Wärme lechzende Menschenseele. Das alles kann sich nicht still und demütig vollziehen, nein, es muss heraus wie das Jubilieren der Lerche in der Morgensonne mit Flötentönen und Hallelujahsang. Die christlichen Religionsgemein-schaften, übertreffen sich beim universellen Jubelbedürfnis gegenseitig mit verquasten Botschaften, die möglichst alles Wünschenswerte beinhalten, was in der herbeigesehnten Form leider nicht vorhanden zu sein scheint.

  Doch halt! In ferneren Regionen unseres Planeten, in denen andere klimatische Bedingungen herrschen als in unseren „gemäßigten“ Zonen, sind auch die Sichtweisen andere. Die Abwesenheit jahreszeitlicher Schwankungen hat dort nicht nur die sensorischen Befindlichkeiten, sondern gleichzeitig auch die damit einher gehenden Psychen anders entwickeln lassen. So hat denn im Laufe der Zeit eine, jenseits der gemäßigten Zone entstandene und in unsere Biosphäre exportierte, Heilslehre sich den neuen Bedingungen ange-passt. Andere, bodenständig weiterentwickelte Religionen, entfalteten sich in ihren Ursprungsländern auch folgerichtig verschieden. Lediglich Dekor und Ausstattung des lebenden und toten Inventars erinnern heute noch an gemeinsame archaische Wurzeln. Und diese offenbaren sich an diesem hohen Feiertag mit festlichem Pomp, prallen mit geballter Intensität auf das erwartungsfroh gestimmte Auditorium.

  O du schöne, heile Welt des Glaubens!

   In der Ewigen Stadt geruht alljährlich die diesseitige Stellvertretung Gottes, zu diesem Anlass in einer Osterbotschaft geziemend zu Versöhnung und Gerechtigkeit in aller Welt aufzurufen. Selbstverständlich einschließlich des gewohnten Plädoyers für ein Ende von Gewalt und Intoleranz, insbe-sonders dort, wo die Untugend wieder einmal das übliche Maß übersteigt. Man fordert damit natürlich auch nur das, was ja angeblich und einvernehmlich alle ohnehin wollen: das Beschreiten des Wegs der Vernunft, des Dialogs und der Versöhnung. So zumindest die universelle Intention, die sich im Grunde als Appell an den Rest der Menschheit richtet, sich die von den Verkündern ausgehenden Sichtweisen zu eigen zu machen. Kaum jemand erachtet es mehr für nötig, sich mit der österlichen Dauerberieselung mehr auseinanderzusetzen.

Der gebetsmühlenartige Wortschwall endet denn unreflektiert als schmückendes Beiwerk, belobigend goutiert und danach unverarbeitet verdrängt.

  Ob aus indifferenter Gleichgültigkeit, aus eingefleischter Oberflächlichkeit, aus Dummheit oder aus fundamentalem Dissens, lässt sich schwer ergründen. Die Medien befördern Ablauf und Erfolg von Werbefeldzügen aller Art in Tages-nachrichten, Kommentaren und den laufenden Polizei-berichten aus aller Welt ans Licht der Öffentlichkeit: Die alltägliche Gewalt, Raubbau, Lug und Trug setzten sich ebenso unbeeindruckt wie unvermindert fort rund um urbi et orbi.

  Unbestritten ist es ein schöner und liebenswerter Brauch, die Zeitgenossen aus aller Welt in ihrer ganzen Pluralität daran zu erinnern, dass es uns wohl anstünde, so etwas wie Moralität und Anstand zu bedienen und dass auch die Vision eines von uns allen zu gestaltenden Paradieses noch immer der Verwirklichung harrt.

 Ja, sie haben schon etwas für sich, all diese Botschaften aus bombastischen Palästen und ehrfurchtgebietenden Gotteshäusern zu erfahren, vorgetragen von Präsidenten und gesalbten Geistlichkeiten in prachtvollen, altertümlichen Gewändern und funkelndem Ornat, gerahmt von überbordendem Blumenschmuck, pathetischen Chorälen und gewaltigem Orgelschwall, umflossen von Glockengeläute und wabernden Weihrauchschwaden.

  Eindrucksvoll, und so ganz anders als der schnöde Alltag mit seinen kleinlichen Beschwernissen, drängt die ganze Wucht erlebnispädadogischer Einprägungen den braven Gefolgsmann zu ehrfürchtiger Demut, dazu die Verkün-digungen von humanitärer Solidarität, von Hilfe und Aufnahme, von der Minderung schmerzlicher Leiden, von kraftvoll offensiver Einbringung in die Gemeinschaft der Gerechten und Ähnlichem! Ein wenig wundere ich mich denn doch, dass innerhalb unserer kirchlichen Hierarchien gar noch die aktuellen Freiheitsbewegungen in einem Teil der islamischen Welt als „hoffnungsvolle Signale“ gesehen werden.

  O sancta simplicitas! Hatten denn nicht genau ebensolche Signale eine Säkularisierung im Geiste der Aufklärung im christlichen Europa des späten 18. Jahrhunderts ausgelöst? Käme dem institutionellen Christentum heute ein säkula-risierter Islam gelegener als ein nur dem Glauben verhafteter? Wo bliebe jedes religiöse Selbstverständnis ohne unvermeidbare, eigene Selbstzweifel?

  Und dann der rhetorische Dauererfolg „Hoffnung“, an dem sich Sonntagsredner aller Prägungen abarbeiten! Ja, es könnte doch alles so schön sein – irgendwie und irgend-wann. Irgendwo. Ohne Hoffnung auf Zukunft sei für uns Menschen die Gegenwart unerträglich. Kann das sein? Ich meine, dass dies nur für diejenigen zutrifft, die bereits jetzt mit schwer erträglichen Situationen zurechtkommen müs-sen. Das sind aber nicht alle. Hoffnung - aber auf was? Ein Teil der Menschheit scheint mit seinen Verhältnissen gut bedient zu sein und nutzt jede Möglichkeit – ethisch gerechtfertigt oder nicht – diese noch zu optimieren und den eigenen Status mit allen Mitteln abzusichern. Das geht selten ohne Benachteiligung anderer. Es ist der permanente Zustand unziemlicher Verteilung, an der die Menschheit krankt: der Vergabe jener Voraussetzungen, die eine Inwertstellung von Unterschiedlichkeiten in der Gesellschaft erst ermöglicht: an genetischer und sozialer Herkunft, an geistigem und körperlichem Leistungsvermögen, an Erziehung, Bildung und all den erforderlichen Fähig-keiten, die es erlauben, im gesellschaftlichen Miteinander den gefühlten „rechten“ Platz einnehmen zu können. Aber lässt das unsere differenziert ausgerichtete Gesellschaft überhaupt zu, ohne dabei ihre Mitglieder kategorisierend zu bewerten? Es ist dieses Festhalten an einem zwanghaften Wertesystem, das dem Einzelnen nur soviel Status zugesteht, so lange das dem des Privilegierteren nicht abträglich ist und den Überlegeneren gestattet, sich auf Kosten der Unterlegenen schadlos zu halten - als ganz natürliche Rangordnung. Von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, fast unbemerkt stattfindend, mit rechtlicher Absicherung und von den Institutionen mittels eingeforderter Demut offen und unwidersprochen sogar gefördert - Menschenwürde hin oder her. Es ist die Bestäti-gung-, dass sich Religion als das absolut falsche Mittel zur Befriedigung echter Bedürfnisse disqualifiziert.

 Lässt sich denn dieses Dilemma überhaupt und irgendwie bewältigen? Finden sich Lösungen, ohne dabei das „Prinzip Hoffnung“ bemühen zu müssen? Ist es nicht das Einge-ständnis eigener Ohnmacht, die hausgemachten Kontro-versen und Irritationen durch verantwortliches Handeln nicht in den Griff zu bekommen?

  Hoffnung ist ein Seil, auf dem viele Narren tanzen - lehrt ein russisches Sprichwort. Wer glaubt, dass ein Leben ohne Hoffnung nicht zu ertragen sei, hat bereits resigniert. Diesem verbleibt immerhin noch der Glaube an die eigene Willensstärke, der allein Berge versetzen kann.

  Nein, es wird sich nichts ändern, solange wir nicht begreifen wollen, dass das, was wir zu besitzen meinen, längst umgekehrt von uns Besitz ergriffen hat und das, was wir erstreben, in Wahrheit uns beherrscht und uns unserer Freiheit beraubt. Ein Armutszeugnis der Vernunft und des kreativen Gestaltungswillens, das den Nährboden für abstruse Heilslehren liefert, den Menschen entmündigt und in einer „babylonischen Gefangenschaft“ dauerhaft ein-betoniert als Opfer professioneller Hoffnungsverkünder und derer Vertröstungen.

  Doch Gemach! Spätestens mit den Eisheiligen haben sich die Blütenträume ausgeträumt. Der Träumer wird zum Störfaktor des braven Bürgertums und richtet seinen Sinn auf Entspannung in realeren Gefilden, und das möglichst ohne den Ballast von Burnout- und Boreoutsyndromen, Wahlzwängen und Zukunftsängsten.

  Doch – ach wie bald ist wieder Totensonntag…

updated 24. Februar 2017