Man sagt ja nur...

Jonas Jensen

  Die Selbstkritik, mehr noch die Selbstironie, sind Eigenschaften, die insbesondere im öffentlichen wie im privaten Miteinander eher selten anzutreffen sind. Doch es gibt sie, diese Rarität, derer sich mein Freund Hubert gelegentlich bedient und die ich an ihm durchaus zu schätzen weiß. Weil sie so selten vorkommt. Doch der sei hier nicht Gegenstand meiner Betrachtungen.

  Geredet wird bekanntlich viel – sehr viel. Offen und im Verborgenen. Jeder weiß das. Und nicht alles was dem privaten bereich en anvertraut wurde, bleibt auch dort. Unsere Sprache hält für die diversen Arten der Tuchfühlung eine Vielzahl von Auslegungen bereit: Gerede, Geschwätz, Gebabbel, Gelaaber, Gewaaf – nur um eine zu nennen. Insbesondere die Dialekte zeichnen sich ganz besonders durch treffende Nuancierungen aus.

  Nicht alles, was so „geredt“ wird, erhebt den Anspruch als klug oder profund zu gelten. Geschwätz zu verbreiten gilt zwar schon immer als „uncool“, hat jedoch den bemerkenswerten Vorteil, ausnahmslos nur von anderen ausgebreitet zu werden. Man redet mit-einander, von-einander, über-einander oder auch auf-einander ein, zerredet etwas, redet etwas schön, schlecht oder gar tot, macht von sich reden oder redet sich um Kopf und Kragen. Und da ist noch die Ausrede. Dabei fällt auf, dass beinahe alle „Redensarten“ negativ besetzt sind. Da dem offenbar so ist, erscheint es umso merkwürdiger, dass der „Redselige“ in der Gesellschaft einen auffallend höheren Beliebtheitsgrad genießt als der Wortkarge. Warum aber?

  Es leuchtet ein, dass es umso leichter fällt, sich zu äußern - also sein Inneres zu offenbaren - je weniger geistiges Mobiliar dabei zu bewegen ist. Meines ist – mit Verlaub – etwas sperrig. Wie sperrig, versuche ich immer noch herauszufinden. So ist denn jede verbale Äußerung auch so etwas wie eine Beichte, sagt sie doch auch immer eine ganze Menge mehr über den Veräußerer aus, als der Inhalt zunächst vermuten lässt. Es lässt sich nicht leugnen: Nicht alles, was sich auf dieser Bühne tummelt, hält dem Kriterium eines Meisters stand, und das wiederum verleiht dem casus seine menschliche Note. Ist der unverhoffte Tritt ins Fettnäpfchen erst einmal vollzogen, darf der also Ertappte mit der Floskel „man wird ja noch sagen dürfen“ indigniert und ungestraft den Rückzug in die Schmollecke antreten. Dies ein gebräuchlicher und ehrenwerter Notausgang, der dem Unbedachten jede weitere Darlegung seiner Argumentation gnädig erspart. Die moderne Gesellschaft hat unseren Sprachgebrauch analog etwas entschärft und dafür mir der internationalen Vokabel „small talk“ die ansonsten anrüchige Geschwätzigkeit salonfähig gemacht, sie sogar bis zur Kunstform weiterentwickelt, die dankbare Millionen tagtäglich trefflich amüsiert. Schöne neue Welt!

  Doch eigentlich wollte ich ja etwas über mich erzählen. Wenn ich mich in meine Kindheitserinnerungen zurück versetze, früher also, begleitete mich durch meine gesamte Schulzeit hindurch das Scherbengerichtsurteil

„Er muss mehr aus sich herausgehen“.

 

  Herausgehen aus was? Aus mir selbst? Wie macht man so etwas? Ich war damals ja noch so unerfahren und unwissend, und es will mir auch bis heute nicht so recht einleuchten, wie , warum und wohin ich mit meinem kläglichen Rüstzeug hätte damals hingehen sollen. Andere Altersgenossen hatten da offenbar weniger Vorbehalte und Skrupel, sich dabei auch zu blamieren. Möglicherweise gab es da ein Schlüsselerlebnis.

 Als ich nach meiner ersten Bekanntschaft mit der Straßenszene im Vorschulalter heulend nach Hause eilte und mich beklagte, dass mich da einer gehauen habe, antwortete mir damals mein Vater anstatt mit der erhofften Tröstung mit der Drohung, dass ich im Wiederholungsfall mit einer weiteren Tracht von ihm persönlich zu rechnen hätte. Das hat meinem natürlichen Mitteilbedürfnis nachhaltig einen schweren Dämpfer versetzt. Andererseits förderte das meine Eigeninitiative und meine Risikobereitschaft. Trotzdem hielt ich es danach für klüger, mich diesbezüglich in expressiver Selbstbeschränkung zu üben.

 Meine ersten Annäherungsversuche an das andere Geschlecht sehr viel später erwiesen sich dann auch folgerichtig als ein persönliches Pearl Harbor, als totale Katastrophe. In dem verkrampften Bemühen, über mich selbst hinauszuwachsen, bruchlandete ich in der Wüste eines kommunikativen Niemands-landes, wo ich ohne Navigationsgerät bis zu meiner Heirat umherirrte. Längst hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, vorzugsweise zuzuhören, getreu der alten Schulweisheit: si tacuisses, philosophus mansisses. (Hättest du geschwiegen, wärest du weiterhin als Philosoph gegolten). Da war man immer auf der sicheren Seite.

 Mein ursprünglicher Respekt vor meinen lieben Mitmenschen – anfangs ehrfürchtig überhöht durch deren vermeintlichem Wissens- und Erfahrungsvorsprung, hatte mit den Jahren indessen stark gelitten, ebenso wie mein Bemühen, durch Anpassung aus dem Blickfeld landläufiger Voreingenommenheiten zu rücken. Irgendwann interessierte mich die ganze Thematik nicht mehr. Meine Aufmerksamkeit hatte sich anderen Themenkreisen zugewendet. Dennoch kommt es selbst heute noch zu Rückfällen, wie geschehen zu meinem Siebzigsten, als mich ein guter Freund in einer Ansprache nichts ahnend an das alte Verdikt einer ganzen Generation von Schulmeistern erinnern zu müssen glaubte. Schatten der Vergangenheit! Diesmal aber immerhin mit der apologetischen Einschränkung „…aber…

Während meiner Aufenthalte in außerfränkischen Luftschichten hatte ich das eher seltene Glück, einen wirklichen Gesprächspartner kennen zu lernen, auf den dieser schöne Begriff im ursprünglichen Sinne auch zutraf. Partner! Gut zehn Jahre lang sollte er meinen Lebensweg begleiten und meinen Bedürfnissen nach kommunikativem Austausch in idealer Weise gerecht werden, ehe ihn eine heimtückische und unheilbare Krankheit ereilte.

  Mein „Einstieg“ als Debütant in die lokale Sportszene wurde in den Kreisen gleich zu Beginn im besten fränkischen Idiom einhellig so markiert:

„Deä redd nix!“

 

  Drei Worte, kurz, prägnant, umfassend. Fränggisch hold. Alles war gesagt! Auf der anderen Seite war das kommunikative Angebot rund um den Sportverein meinerseits alsbald abgearbeitet und bot nach relativ kurzer Eingewöhnungszeit inhaltlich wenig neues mehr. Aber da war ja auch noch die dort gepflegte Gesprächskultur. Von wegen Kultur! Sie erinnert mich in ihrem charakteristischen Ablauf mehr an einen auf verbalem Terrain ausgetragenen Krieg, denn an einen Austausch von Gedanken und Informationen. Immerzu redet irgendeiner, manchmal auch zwei oder drei, alle gleichzeitig, ohne zu bemerken, dass die freigesetzten Lautemissionen gar keinen Empfänger erreichen! Das ganze stört das anwesende Auditorium jedoch keineswegs, das hingebungsvoll bemüht ist, in der allgemeinen Kakophonie selbst auch noch vernehmbar zu bleiben. Die kleinste Unterbrechung des gleichmäßig dahinströmenden Redeflusses gilt als unmissverständliche Aufforderung für den oder die nächsten Akteure, das Thema zu wechseln und eigene Angelegenheiten in den Vordergrund zu werfen, ohne dem atemholenden Vorredner den Hauch einer Chance zu lassen, seine Gedanken zu Ende zu führen. Bloße Unart, Rüpelhaftigkeit oder militanter Gesprächsfaschismus: Selbst in öffentlichen Sachdiskussionen hat diese Unsitte breiten Raum eingenommen und lässt jede Diskussion zur Tortur werden, die so zum Selbstzweck verkommend, ein ergebnisoffenes Ziel völlig aus den Augen verliert. Vielleicht verlieren will. Insbesondere Politiker sind da einem besonderen Leidensdruck unterworfen. Sie können, sie dürfen nicht einmal, wie sie wollen. Im Wettbewerb um Amt und Mandat unterwirft man sich dem Koalitionszwang, der Parteiräson oder dem populistischen Zeitgeist. Die ganze Erbärmlichkeit dieser routinemäßigen Abwicklung wird mit derartiger Geübtheit in einem Gedünst sinnverwirrender Nebelkerzen relativiert, und unter dem Trommelfeuer rhethorischer Worthülsen das lästige und genervte Auditorium in die Schützengräben zurückbombardiert. Ein ganzes Land droht im Talkmorast zu versinken, Alternativlosigkeit und Relativierung werden zum Prinzip, Mehrheitsfindungen zunehmend zum Problem. Demokratie am Abgrund? Wie kann man sich dagegen wehren?

 Stell dir vor, du sitzt in einer angetörnten Runde energiegeladener Kampfredner, abgeklärt und still vor dich hinlächelnd, weil du längst aufgegeben hast, irgendeinem der ständig unterbrochenen und unkontrollierten Gesprächsfetzen zu folgen. Und nun beginnst du, fröhlich vor dich hinzugackern; „Göök, gööök, göököökökök“, gerade so wie in einer Legebatterie. Wie würde das ankommen? Nicht besonders, fürchte ich. Vielleicht findet es auch einer sogar ganz lustig. Oder reagiert beleidigt. Fast aber bin ich geneigt zu glauben, man würde es im allgemeinen Gegacker gar nicht bemerken. Oder doch?

  Einem vom mir hoch geschätzten Landsmann, Wahlfrankfurter, von dem ich mir gut vorstellen kann, dass er hier nicht gezögert hätte, seinen Spott auf ähnliche Weise loszuwerden, hat seine Bereitschaft zur brutalstmöglichen Gesellschaftskritik den Ruf eines Misanthropen eingebracht. Soviel Ehrlichkeit verzeiht man nicht. Auch heutzutage tut sich ein Prophet unter lauter beleidigten Leberwürsten mit der gesell-schaftlichen Akzeptanz immer noch schwer!

  In einem Meer rhethorischer Unverbindlichkeiten droht jede Initiative zu ersticken. Wer diesen Zustand nicht dauerhaft zu ertragen bereit ist, sollte sich an einem geflügelten Wort aus dem Hessischen orientieren, das da lautet:

Net gebabbelt – uffgerappelt!

 

  In unserer Laufgemeinde hat es funktioniert, und mit der Unterstützung Gleichgesinnter konnte danach so einiges bewegt werden – mit nachhaltigem Erfolg! Und siehe: Es entstehen, aus Keimzellen eines kulturellen Sauerteigs heraus, gemeinsame Aktivitäten, die weit über den small talk hinausreichen – zur Freude und zum Nutzen aller.

  Im Laufe der Jahre beginnen alle Dinge sich ohnehin zu relativieren. Mit dem Rückzug aus den Käfig-haltungen militanter Simultan-Talker hat sich auch meine Situation als Empfangsverweigerer von Rede-Tsunamis zunehmend entspannt. Ich genieße meine Bereitschaft zu Äußerungen jeglicher Art allein und unter Freunden - ohne Vorbehalte und Hintergedanken. Dass ich dies heute so entspannt bekennen kann, möge dafür stehen, dass unter Gleichgesinnten jeder seine Eitelkeiten ausleben darf, ohne sie leugnen oder unterdrücken zu müssen und ohne unvermittels den Verlust der Freundschaft zu riskieren.

 Wie verkraftet man eine solche schicksalhafte Befindlichkeit über die Jahre hinweg? Ich verweise auf eine Empfehlung im Treppenaufgang unseres Hauses, der inhaltlich von Schiller stammt. Dem Schiller.

 

Kannst du nicht allen gefallen durch

deine Tat und dein Kunstwerk,

mach es wenigen recht. Vielen gefallen ist schlimm.

 

 Ein sehr bekannter Künstler empfiehlt, gerade die Eigenschaften, die andere einem zur Last legen, sorgsam zu kultivieren, weil es wahrscheinlich diejenigen sind, die die eigene starke Seite ausmachen. Ein Rat, den ich gerne annehme. Zum Schluss sei mir noch zu diesem Thema eine persönliche Botschaft gestattet, die euch allen ans Herz gelegt sei:

 

Gelobt und gebenedeit seien alle, die nix zä sohng ham,

obbäs Maul holdn!

update 31. Mai 2016