Dasein

Peter Mohrbacher

 

  Nein, es ist nicht neu. Es ist so alt, dass man nicht einmal erahnen könnte, wann, wo und wem es zuerst aufgefallen ist, dass es überhaupt eine Rolle spielt. Denn die tut es. Und was für eine!

 

Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, indiskret oder zudringlich an dich heranzutreten, lieber Leser,

aber es ist mir ein Grundbedürfnis, mit einer der Notwendigkeit abgetrotzten Einstellung zum faktischen Leben mein Wissen und die zugehörigen Einsichten zur Vervollkommnung zu bringen. Mit jenem, im Grunde doch seelenlosen Verfahren, dem auch eine immer weniger relevante Bedeutung zugerechnet wird, sorgt im

allgemeinen Wirken innerhalb der menschlichen Gesellschaft mit der mondänen Vergötzung des „rein Menschlichen“ indessen ein anderes, ebenso unerlässliches Kriterium für die Sublimierung und Ausgestaltung des Daseins privilegierter Westeuropäer.

 

   Die darin beinhaltete Ambivalenz fällt nicht sofort ins Auge. Der hier angesprochene „Normalmensch“ beruft sich einerseits sowohl auf seine Grundrechte als Teil der Schöpfung mit einem Anspruch auf körperliche Unversehrtheit und uneingeschränkte Gleichberechtigung, als auch auf seine kausale Befindlichkeit als Mitglied einer Gemeinschaft, die sich weitgehend auch den animistischen Auffasungen religiöser Bekenntnisse verpflichtet fühlt. Dort indessen sind mit der unumgänglichen Anfälligkeit für Selbsttäuschungen jedem Ansatz von Moralität enge Grenzen gesetzt. Es liegt auf der Hand, dass unter diesen Voraussetzungen gesellschaftsrelevante Entscheidungen vorrangig von gefühlten Stimmungslagen beherrscht werden - meist mit fatalen Folgen.

 

  Es hilft alles nichts; auch wenn das Leben in all seiner Vielfalt sich als „schön“, ja mit all seinen Verlockungen als erfüllend präsentiert, bleibt es uns als Beteiligte und Mittäter nicht erspart, es so zu „verarbeiten“, wie es sich abweichend von unseren Vorstellungen und Wünschen zu entwickeln beliebt. Bei aller Aussichtslosigkeit, das eigene Leben gestaltend so zu bestehen, wie man es sich vorgenommen hat, sind Selbstzweifel und immer wieder aufkommende Empfindungen des Versagens nicht nur ein unverzichtbarer Bestandteil der menschlichen Psyche, sondern geradezu Bedingung zur seelischen Reife, erscheint doch ein perfekt überlegt und vorgeplantes Leben als ebenso realitätsfremd wie nichtswürdig.

 

  Nein, ein Wunschprogramm ist das Leben nicht und war es auch nie, in dem der Daseiende gefordert bleibt, damit auf seine Weise fertig zu werden. Der ewige Zwist zwischen Verstand und Emotion samt seinen unterschiedlichen Motivationen und Impulsen, schwebend zwischen Gier und Ängsten, fordert die seelische Belastbarkeit desto stärker, je ausgeprägter sich charakterliche Wesensmerkmale entwickelt haben.

 

  Indes, neue Herausforderungen kündigen sich an. Maschinen machen dem Menschen die Herrschaft über die Welt streitig - mit sich potenzierender Übereilung. Genügte bisher ein Intelligenzquotient von 200 dem Begabten zur Einstufung als Genie, sind jetzt bereits Computer mit einem IQ von 10000 absehbar, wie der Technikchef des IBM-Supercomputers Watson Anfang 2017 bekanntgab. Die Konsequenzen sind noch nicht abschätzbar, die Notwendigkeit einer philosophischen Aufarbeitung dafür umso gebietender. Weit über die Umgestaltung unserer bereits jetzt schon unbeständigen Arbeitswelt hinaus wird uns die Anpassung von menschlicher Kreativität und interagierender „Partnerschaft“ mit dem Potenzial künstlicher Intelligenz an brauchbare Arbeitsmodelle unübersehbare Knacknüsse bescheren. Nachdem sich Menschen daran gewöhnt haben, sofortige Antworten von Bots, also Computerprogrammen zu erhalten, die weitgehend automatisch sich wiederholende Aufgaben übernehmen, ohne bitte oder danke sagen zu müssen, ist eine bereits erkennbare Verrohung des Umgangstons dabei vielleicht noch das geringere Übel gegenüber einer allgemeinen Zunahme von Agressivität.

 

   Das Leistungsvermögen menschlicher Kreativität gepaart mit künstlicher Intelligenz wird auch unaufhaltsam in Zukunft weitere Technologien erzeugen und damit neue Risiken des Versagens, die über einen längeren Zeitraum an Gewissheit anwachsen und mit der Nukleartechnik oder gezüchteten Viren auch reichlich Material für Horrorszenarien aller Art in einer übersättigten, gelangweilten und sensationslüsternen Konsumgesellschaft.

 

 4. August 2017