Auf der Suche

                                                                              Carter Goodrich

  Die Utopie vom „werdenden Weltbürger“ treibt zwangsläufig seltsame Auswüchse in dem Bemühen, den Geist einer ebenso herbeigesehnten wie umstrittenen „europäischen Idendität“ fassbar zu machen. Welch ein Unterfangen, das mit Pendelbewegungen zwischen Todeskampf und Presswehen in einem Ruinenfeld gescheiterter Deutungs- und Erklärungsversuche unbeirrbar daran festhält, alles dennoch in irgendeiner übergeordneten Gesetzmäßigkeit verorten zu können.

  Diese Bemühung, sich ausschließlich als reine Geisteswissenschaft verstehend, beruft sich auf die Doktrin eines „ethischen Universalismus“, der sich aus eigenem Selbstverständnis heraus nährt und legitimiert. Das geschieht unter Einbeziehung der Säkularität, also der Trennung geistiger und weltlicher Macht und einer fortschrittsorientierten Sekundarität: der wahlweisen Vereinnahmung fremden Kulturgutes als die

Grundlagen einer neuen Weltordnung.

  Dem gegenüber steht als unüberbrückbare Antithese der instinktive kreatürliche Überlebenswille in feindseligem Umfeld. Die scheinbar so dringend benötigte Vereinbarkeit beider Konditionen kommt trotz unzähliger Fehlversuche nicht von der Stelle, da beide Vorbedingungen faktisch einander ausschließen. Keine Seite ist ja auch konsequenterweise geneigt, die andere anders denn als tödlichen Irrglauben wahrzunehmen. Und in der Tat: physische Existenz ohne ethisches Korsett ist möglich, ethischer Formalismus jedweder Art ist ohne eine zugehörige Körperbeschaffenheit bleibt dagegen ausgeschlossen und auch als korrigierendes Regulativ undenkbar.

  Leben wir in einem Zeitalter der Maßlosigkeiten, das wie ein verzogenes Kind nicht müde wird, die Grenzen der Toleranzfähigkeit seines Umfeldes immer wieder aufs Neue zu testen und auszuweiten - bis zur gänzlichen Abschaffung?

  Wieder einmal mehr verkündet die fortschreitende Sprachverrohung den moralischen Verfall einer Zivilgesellschaft, die sich zu neuen „Volksgemeinschaften“ formiert und dort ihr unseliges Werk der Diskriminierung und Ausgrenzung betreiben muss. Alles erscheint möglich, selbst Gott.

  Ehe für alle! Wohlstand für alle! Sicherheit für alle! Narrenfreiheit für alle?

Wie so oft reduziert sich die Euphorie über eine wieder einmal errungene „Wahrheit“ als eigentliche Abschaffung der jeweiligen Zielvorstellung. Jedes Ideal, jede Tugend ist sinnlos ohne ihre Eingrenzung.

Ein Land ohne Grenzen ist kein Staat, ein Volk ohne Idedität keine Nation! Auch die Natur selbst bekennt sich

zu ihrem Anspruch auf Leben und Unversehrtheit, in der Regel mit vorrangigem Erfolg gegenüber jeder Tugendlehre.

   Friedrich Stoltze formulierte es so:

                                                  Und wo nichts mehr zu retten ist,

                                                  Eh man ersäufet ganz,

                                                  Da hält sich auch ein guter Christ

                                                  Am Teufel seinen Schwanz.

 

  Der Krug geht solange zum Wasser, bis er bricht. Allein, es irrt der Mensch, solang er strebt, konstatierte Goethe. Vielleicht sollte der Umherirrende seine Strebsamkeit etwas sachbezogener ausrichten, anstatt seine Vorurteile samt der kaschierten Denkfaulheit mit ins hohe Alter zu transportieren und auf bessere Zeiten zu hoffen! So manche fehlgeleitete Hoffnung stellte sich als Irrtum heraus und endete unrühmlich im Fatalismus...

  Und wieder einmal mehr scheitert der triumphale Einzug in die vielbeschworenen elysischen Gefilde der ewigen Glückseligkeit an ihrer universellen Unvermittelbarkeit und dem gnadenlosen Zeitfaktor. Die Lösung des Problems liegt anderswo.

   Viel wäre bereits erreicht mit der Einbeziehung der Lebenswirklichkeit, der Beachtung der Verhältnismäßigkeit und ihrer Folgerichtigkeiten „über den Tag hinaus“ in unserem zielstrebigen Handeln!

  Was kann uns schon eine Welt bedeuten, die es offenbar doch nicht wert zu sein scheint, so wahrgenommen zu werden, wie sie nun einmal ist und der Lüge bedarf, um sie überhaupt aushalten zu können?

   Und die trotzdem nicht anders sein kann, ohne sich dabei selbst aufzugeben?

 12. Juli 2017