Nightfever

 

Schwacher Lichtschein unzähliger Kerzen erhellt den Dom. Menschen zünden Lichter an, sitzen vor dem großen Kreuz, knien vor dem Altar mit dem Allerheiligsten in der Monstranz, sprechen ein stilles Gebet. Musik erklingt, wechselt sich mit besinnlichen Texten ab. So ist „Nightfever“.

 

  Nein, es ist keine Szene aus einem Mysterienspiel oder die okkulte Kulisse eines Geheimbundtreffens. Es ist vielmehr eine sich in Abständen wiederholende Einladung an die Gläubigen vor Ort in einer ganz normalen Tageszeitung. Und trotzdem hat das etwas Gespenstisches, Übernatürliches, was hier passiert. Passieren soll. Ohne die spirituelle Dimension des Ereignisses bewerten zu wollen, vollzieht sich hier etwas eigentlich Unmög-liches. Oder sollte es zumindest. Absichtlich.

 Es ist nichts weniger als eine berechnete Anrufung des Unver-gänglichen im besonderen Moment. Dennoch: Der engagierte Teilnehmer des Szenariums erfährt zwar ein „Etwas“ weit außerhalb seiner Erfahrungswelt, nur um am Ende es wieder los zu lassen. Er kann dort nicht bleiben, denn er hat das äußerste Ende seiner Eigenständigkeit erreicht und weiß, dass er wieder umkehren muss. Was immer ihn hierher und weiter bewegen sollte, er kann es nicht verinnerlichen und nicht mitnehmen, denn er liebt es nicht und vermag dafür auch keine Leidenschaft zu generieren. Aber sollte er das? Die Absicht der zitierten Verlautbarung ist am Ende des Artikels deklariert: Es sollen vor allem kirchenferne Jugendliche und junge Erwachsene damit erreicht werden, mit dem Ziel, sie einen Schritt näher zum Glauben zu bringen.

  Der flüchtige Unterhaltungswert solcher Rituale ist seit jeher unbestritten, nicht nur für den zur Mystifikation Neigenden. Doch wo ist hier der Gewinn für die übrige menschliche Gesell-schaft zu suchen? Ist diese Frage überhaupt berechtigt, oder darf sie nur im erhofften individuellen Nutzen gesehen werden? Was geschieht mit dem Menschen, der sich für einen Augenblick loslöst und bewusst in eine unbekannte Welt eintauchen will? Es muss ein hilfloses Gefühl sein, wenn sich der ruhig gestellte Geist dem Unheimlichen auszuliefern bereit ist, dem er dann, halb betäubt und einsam gegenübersteht, ohne Selbstvertrauen, vielleicht gar mit einer unterdrückten, diffusen Angst? Doch selbst der Aberglaube ist auch nicht gänzlich losgelöst vom jeweiligen Stand der Wissenschaft und somit ebenso dem Zeitgeist und der sozialen Akzeptanz weitgehend verpflichtet.

   Sind es Abirrungen eines kranken Geistes, die jeder Erklärung spotten? Oder ist es die Monomanie einer pathologischen Reizbarkeit, jener geistigen Fähigkeit, die die psychologische Wissenschaft als eine übersteigerte Fähigkeit zur Aufmerksamkeit begreift? Sie erregt sich einerseits an Unbedeutendem und unterscheidet sich andererseits von der Neigung des Geistes zum Grübeln, wie man es oft bei Personen mit lebhafter Fantasie antrifft.

Bedauerlicherweise wird es ebenso wenig möglich sein, die nach Äußerung drängende Empfindsamkeit eines solchen unsteten Interesses begrifflich in Worte zu fassen.

 

  „Diese Sorgen möchte man haben“ mag sich da so mancher denken, der sich einmal inhaltlich mit der Frage „Gibt es Gott?“ eingelassen hat. Dabei wurde und wird die konfliktgeladene Thematik mitunter gar zur persönlichen Schicksalsfrage. Zum Problem wird sie aber mit dem ständig wiederkehrenden und erfolglosen Versuch, sprachliche Terminologien grundverschiedener, nicht sinnlich wahrnehmbarer Ebenen im Zusammenhang zu verquicken.

 

  Da sind einerseits unsere Gehirne, die aus den von unseren Sinnesorganen gelieferten Signalen heraus ein Modell unserer Außenwelt interpretieren und daraus mentale Konzepte bilden. Diese sind die einzige Wirklichkeit, die wir erkennen können. So entsteht daraus, seine eigene Realität schaffend, ein konstruiertes Modell. Das fatale daran: Es erträgt in der Regel keine andere Überzeugung neben sich.

  Wissenschaftliche Determination andererseits duldet keine Ausnahmen und Wunder. Die durchaus vernünftige Frage, wer oder was das Universum geschaffen hat, müsste sich mit der Antwort „Gott“ lediglich die Prolongation einhandeln, wer Gott geschaffen hat. Wissenschaft und Theologie sind sich nur soweit einig, dass es eine Instanz gibt, die keinen Schöpfer braucht. Darum ist die Suche nach einem in sich konsistenten Modell des Kosmos, das Werte für vorhersagbare, messbare Größen liefert, ohne Rückgriff auf übernatürliche Wesen nur folgerichtig. Seit etwa einem Jahrhundert ist unser Universum nicht mehr mit den Begriffswelten von Aristoteles bis Newton erklärbar. Gewohnte traditionelle Begrifflichkeiten haben ihre autoritäre Relevanz spätestens mit den Analysen Einsteins verloren, die in der Wissenschaft nur noch durch mathematisierende Darstellung erfassbar sind. Es muss schwer fallen, anerzogenes und liebgewonnenes Gedankengut infrage zu stellen. Immerhin leistet sich inzwischen auch der Vatikan ein Observatorium, und Professor Hawking muss nicht mehr befürchten, das Schicksal eines Giordano Bruno teilen zu müssen. Auch dies ein Erfolg unabhängigen Denkvermögens.

  Trotzdem bleibt es eine ungelöste Schicksalsfrage, solange wir den aus der Ratlosigkeit geborenen, verführerischen „Erfahrungen, die Menschen durch Vertrauen auf Gott gewannen“ weiterhin in aller Welt das Primat über eine erklärbare Realität zubilligen. Die Auswirkungen auf eine von Gier und Ängsten überforderten Gesellschaft sind heute wie an jeder beliebigen Stelle der Menschheitsgeschichte als Produkte des Irrsinns verfolgbar und degradieren die Wirklichkeit zu unserem größten Gegner. Anders gesagt: Wo der Glauben dominiert, ist der Teufel nicht weit.

  Wohl und Wehe der Menschheit, in all ihrer kulturellen Vielfalt, ist heute maßgeblich vom Umgang mit- und untereinander bestimmt. Politik und Diplomatie sind die unvollkommenen Werkzeuge, die dafür zu sorgen haben, dass alles in erträglichen Bahnen geschehen kann. In Bahnen allerdings, über deren Weisheit selten Einigkeit herrscht. Doch woran sollen sich solche „praktikablen Weisheiten“ orientieren?

  Es ist ein merkwürdiges Kuriosum, dass es gerade deren Verkünder sind, die den übrigen Erdenbewohnern ständig zur Last fallen. Ungleich über die Welt verteilt, erfordern dies, mehr als alles andere, die dazu nötige Fähigkeit. Will man herausfinden, wie man denn Weisheit überhaupt erkennt, zeigt sich der nach Konsens ausgerichtete Verstand bereits überfordert: Eine Übereinkunft bleibt unmöglich ohne verbindliche Zielangabe, welche die drei klassischen Vorraussetzungen erfüllen muss: Wahrheit, Güte und Notwendigkeit. Sollte also ein verunsicherter Mensch sich sinnvollerweise einer okkulten Bewusstseinsebene anver-trauen, über deren Tatsächlichkeit und Intention er nichts weiß? Hierzu gibt es repräsentative Erhebungen.

  Beginnend mit der Wahrheit, muss man bereits hinnehmen, dass der weitaus überwiegende Teil der US-Amerikaner die Evolutionstheorie traditionell anzweifelt. Nun liefert gerade diese die bisher einzig schlüssige Antwort auf die Entstehung der Arten und ist wissenschaftlich belegbar.

  Nur 9,5 Prozent sind davon überzeugt, dass Gott oder eine andere höhere Macht absolut keinen Einfluss auf die Entstehung des Universums und das menschliche Leben hatte. So eine Umfrage der Rice Universität, vorgetragen beim Jahrestreffen des Wissenschaftsverbands American Association for the Advancement of Science in Chicago. Die restlichen 90 Prozent der zehntausend Befragten sind der Meinung, dass diese höhere Macht ganz oder zumindest teilweise für die Entstehung des Alls und des Menschen verantwortlich sei. Bei den Evangelikalen seien dies gar 97 Prozent. Selbst unter den befragten 600 Wissenschaftlern glaubt nur etwa jeder Fünfte, dass Gott mit der Entstehung des Universums nichts zu tun hatte.

  Wie immer man selbst zu diesem Sachverhalt stehen mag, so verdeutlicht die Studie, dass das Kriterium „Wahrheit“ für die überwältigende Mehrheit der Glaubenden nicht schlüssig und allgemeinverbindlich anwendbar sein kann. Doch wie steht es mit der wertbestimmenden „Güte“?

  Wem sollte das Sichverlieren im Okkulten ein höheres Wohl-befinden bescheren und warum? Die Möglichkeit, sich danach in Psychosen wiederzufinden, erscheint mindestens ebenso groß.

  Bliebe noch die „Notwendigkeit“. Als Fluchtmöglichkeit aus unbefriedigenden Lebensumständen und Langeweile ließen sich gewisse Vorteile erkennen, jedoch ohne die Möglichkeit, die Wurzel des Übels damit zu entfernen. Das ginge nur mit dem permanenten Verweilen in einer Scheinwelt, ohne Umkehr. Aber das ist, wie anfangs bemerkt, unmöglich. Es sei denn mit der völligen Erlösung in geistiger Umnachtung.

 

updated 28. Juli 2016