Summa summarum


   Nicht selten verleitet ein irgendwo aufgeschnappter Aphorismus mich als Empfänger zu völlig unvorhergesehenen, ja sogar ausufernden Erwägungen und Gedankenspielen. Nun weiß ich, wissenschaftlich untermauert, dass ich ein Ausnahmefall sein muss. Nein, ich muss es nochmal zitieren!


                 Ich habe noch nie einen Pessimisten nützliche Arbeit für die Welt tun sehen. 


   Das Zitat stammt von keinem Geringeren als dem verheiligten pontifex maximus Johannes Paul II. Auch ohne sich in diesen Sinngehalt zuvor vertieft zu haben, regt sich da in mir mit der anerzogenen Skepsis der Drang zum Widerspruch. Auch Pessimisten können ja nicht ganz nutzlos sein und versehen ihr Tagwerk auf irgend eine Art und Weise. Woher will der Mann wissen, wie dieses zu bewerten ist? Was versteht er unter „nützlich? Was unter „Welt“?

Darf man Zweifel erheben, dass die Sicht des Aphoristikers eventuell getrübt sein könnte? Betrachtet man den desolaten Zustand des Weltgetriebes, müsste demnach die menschliche Gesellschaft ausschließlich von Pessimisten dominiert sein. Doch nehme man besser solche Gedankenlosigkeiten mit der entsprechenden Gelassenheit hin. Der Wahrhaftigkeit näherliegend erscheint mir da ein Zitat des englischen Schriftstellers Herbert George Wells:

                                        Den Fortschritt verdanken wir den Nörglern.

                                Zufriedene Menschen wünschen keine Veränderung.

   Die Vorstellung, dass auch Jesus Christus ein zufriedener Mensch gewesen sein könnte, erscheint, nach allem was wir wissen, abwegig. War er ein Optimist? Wir wissen es nicht. Und doch tut sich da eine unglaubliche Bandbreite von Mutmaßungen, Annahmen, Ahnungen,  Erwartungen, Befürchtungen, Zweifeln und sonstigen Vorstell-barkeiten auf, die mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung beitragen. Wer findet hier noch den Durchblick in einem unübersehbaren Chaos, das unaufhörlich wächst und gedeiht? Woher kommt das alles? Wohin führt es? Wo liegt die Wurzel des Übels? Fragen über Fragen.
   Vielleicht hier? Als ob man es nicht schon immer gewusst hätte: Die meisten Menschen sind nicht gern mit ihren Gedanken allein. Warum? Graut uns etwa vor uns selbst? Haben wir kein Selbstvertrauen?
   Die Forschung hat in einer Reihe von Experimenten herausgefunden, dass viele Menschen das „Alleinsein mit sich“ grundsätzlich als unangenehm empfinden. Sie greifen lieber selbst zu schmerz-haften Ablenkungen, als ohne zusätzliche Beschäftigung ihren Gedanken nachzuhängen. Friedrich von Schlegel empfand es einmal als sonderbare Kuriosität, dass der Mensch sich nicht vor sich selbst fürchtet. Er mochte hierfür seine Gründe gehabt haben. Sind also die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft ein Beweis für seine Feststellung oder dessen Gegenteil? Graut uns vor uns selbst, dass wir den näheren Kontakt mit unserem Ich lieber vermeiden? Oder ziehen wir es vor, nicht tiefer in eine Materie einzudringen, mit dessen ungewissem Ergebnis wir uns nicht belasten möchten? Ist der Mensch mit der ganzen Thematik in seiner Mehrheit überfordert?
   Bekanntlich ist es eine dem Menschen vorbehaltene Fähigkeit, über seine momentane Befindlichkeit hinaus über Vergangenheit, Zukunft, Kunst und hunderterlei irreale Fantasien, über sich selbst,  ja sogar über sein eigenes Ende zu sinnieren. Strittig bleibt indessen, ob wir uns zwanglos diesen Herausforderungen ergeben, sie gar mehr oder weniger lustvoll genießen oder – fürchten.
   Das Ergebnis der Studie weiß zu berichten, dass die meisten Testpersonen ihre liebe Not damit hatten, sich überhaupt zu konzentrieren und nicht gedanklich abzuschweifen und verneinten eindeutig, diese Erfahrung vergnüglich genossen zu haben. Menschen sind nun mal verschieden – im Fühlen wie im Denken. Doch selbst eine Wiederholung des Experiments in vertrauter Umgebung änderte nichts am Ergebnis. Auch eine Untersuchung unter Personen verschiedenen Alters zwischen 18 und 77 Jahren zeitigte, dass das Sinnieren in der Regel keine Freude auszulösen vermochte. Doch es geht noch weiter: Eine Mehrheit der Probanden bevorzugte eine unangenehme, ja selbst leicht schmerzhafte Tätigkeit als gar keine. Erstaunlich!
   Es ließ die Forscher ratlos zurück, was es den Menschen scheinbar so schwer macht, sich mit ihren Gedanken allein zu beschäftigen, obwohl es jeder hin und wieder genieße, einfach in den Tag hinein zu träumen, nicht zu denken! - und das allenfalls spontan. Selbst die Konzentration auf durchaus angenehme Vorstellungen sei schwierig und nur kurzzeitig vollziehbar.
   Was den Wissenschaftlern genügend Anlass verschafft zu weiteren Untersuchungen, weckt auch in mir Fragen verschiedener Art. Handelt es sich bei diesem Phänomen um eine verloren gegangene Fähigkeit im Umgang mit der Langeweile als eine kulturhistorische Besonderheit? Gewiss, der moderne homo sapiens sapiens ist nicht mehr ausschließlich mit Nahrungsbeschaffung und Läuseknacken ausreichend zu motivieren, wo ihm heute doch die virtuelle Unendlichkeit ein schier granzenloses Betätigungsfeld eröffnet. Reduziert sich also der gelangweilte, in seinem Kleinkosmos befangene Zeitgenosse selbst auf ein unberechenbares Risiko, auf ein beeinflussbares und somit unbegrenzt manipulierbares Medium in der Hand fremder, selbstsüchtiger Kräfte, zufriedengestellt und versorgt mit Brot und Spielen? Graut es ihm doch unbewusst vor sich selbst? Sucht er eine vermeintliche Sicherheit im Kollektiv, das ihm eine geistige Heimat bietet und ihn der eigenen Hinterfragung von Ideen und unbekannten Mächten enthebt? Wie anders lassen sich die irrealen Massenpsychosen, unkontrollierbaren Hasstiraden und bedrückenden Ängste ganzer Volksgemeinschaften erklären, als mit dieser bedingungslosen Kapitulation des eigenen Denkvermögens? Es muss belasten, diese Gedanken weiter zu verfolgen, und man beginnt zu verstehen, warum sich hier das fragende Selbst dem entgegen-sträubt. Der innere Zwang zur Verdrängung wird spätestens dann übermächtig, wenn man daraufhin panisch nach Wegen der Abhilfe zu suchen beginnt. Endlich beginnt man zu begreifen, warum der exegetische Verstand gegenüber den auf Emotionen fußenden Ideologien, esoterischen Heilslehren und selbst dem eigenen Bauchgrfühl auf verlorenem Posten steht. Der Fluchtinstinkt einer längst vergessenen Evolutionsperiode zwängt sich ins sträubende Unterbewusstsein. Aber Flucht wohin?
   Spätestens hier verlangt der sinnierende Geist von ihm zwingend den gefürchteten eigenen Standpunkt. Nein, er kann diese Menschenwelt nicht ändern, nicht bekehren. Diese Vergeblichkeit haben andere, Kompetentere über alle Kulturepochen hinweg längst bewiesen. Das mit der Rettung der Welt restlos überforderte Individuum darf sich - sofern ihm das gelingt und er sich nicht zum Narren machen will - in humorvoller Resignation seiner ganz persön-lichen Sphäre zuwenden und dort sein Fluchtziel, sein Exil, seine Freude, seinen Erfolg und seine Zufriedenheit in dieser intimen Eremitage suchen. Vielleicht würde er das alles dort sogar im Laufe seines Erdendaseins finden, wäre da nicht der tägliche, unaus-weichbare Lockruf des seligmachenden Kollektivs. Mit rasant fortschreitender Vernetzungskultur allerdings ein geradezu utopisches Unterfangen, Reste eventuell noch vorhandener Individualität vor einem Zeitgeist zu retten, der dem Charak-teristikum „Geist“ allenfalls als Antonym noch zuzuordnen wäre.
   Viel Erfolg!                                                                                  

      25. Juli 2014