Entschuldigung: Wo bin ich hier?

 

   Immerzu redet irgendeiner, manchmal auch zwei oder drei – gleichzeitig – ohne zu bemerken, dass die freigesetzten Lautemissionen gar keinen Empfänger erreichen! Das ganze stört das anwesende Auditorium jedoch keineswegs, das hingebungsvoll bemüht ist, in der allgemeinen Kakophonie mit allen Mitteln selbst noch vernehmbar zu bleiben. Die kleinste Unterbrechung des gleichmäßig dahinströmenden Redeflusses gilt als unmissverständliche Aufforderung für den oder die nächsten Akteure, das Thema zu wechseln und eigene Belange in die Arena zu werfen, ohne dem atemholenden Vorredner den Hauch einer Chance zu lassen, seine Gedanken zu Ende zu führen. Bloße Unart, Rüpelhaftigkeit oder militanter Gesprächsfaschismus: Selbst in öffentlichen Sachdiskussionen hat diese Unsitte breiten Raum eingenommen und lässt jede Diskussion für die Zuhörer zur Tortur werden, die so - zum Selbstzweck verkommen - ein ergebnisoffenes Ziel sichtbar völlig aus den Augen verliert. Vielleicht verlieren will. Vorwiegend Politiker sind da einem besonderen Leidensdruck unterworfen. Sie können, sie dürfen nicht einmal, wie sie wollen. Im Wettbewerb um Amt und Mandat unterwirft man sich dem Koalitionszwang, der Parteiräson, dem populistischen Zeitgeist oder allem dem gleichzeitig. Mit der ganzen Erbärmlichkeit routinemäßiger Abwicklung wird mit Geübtheit Dahingesagtes im Gedünst sinnverwirrender Nebelkerzen relativiert und unter dem Trommelfeuer rhetorischer Worthülsen das lästige und genervte Auditorium in ihre Schützengräben zurückbombardiert. Ein ganzes Land droht im Talkmorast zu versinken, Alternativlosigkeit wird zum Prinzip erklärt und Mehrheitsfindungen werden zunehmend zum Problem.

  Es geschieht täglich. Überall und immer wieder. „Hast du nichts bemerkt?“

Die Frage lässt mich aufhorchen. Ja was denn? Darauf die enttäuschte Hausfrau: „Wenn die Fenster sauber sind, sagst du nix. Aber wenn nicht…!“

  Ja natürlich. Was funktioniert, was so ist, wie es sein soll, darüber erübrigen sich Feststellung und Kommentar. Zumindest für den Mann. Das Selbstverständliche bedarf keiner überflüssigen Erörterung.

  Trifft man sich allerdings im Wirtshaus – wenn vollbesetzt! – so lässt die oftmals ohrenbetäubende Geräuschkulisse vermuten, dass hier keineswegs Angelegenheiten von allgemeiner Akzeptanz diskutiert werden. Nicht für eine Sekunde verebbt die Tautologie, was den Grund dafür liefert, dass eine Verständigung jenseits der unmittelbar angrenzenden Gesprächspartner akustisch nicht mehr innerhalb der üblichen Zimmerlautstärke möglich ist. Doch warum das alles? Worum geht es?

  A: Man ist sich über das jeweilige Thema grundsätzlich uneinig.

 B: Man empfindet das Thema falsch oder unvollständig dargestellt.

  C: Man bestreitet dem Gegenüber die Kompetenz über den Sachverhalt, oder

  D: Man verknüpft Punkt A, B und C miteinander.

  Und man ahnt es schon: Um hier zu einem Ergebnis zu kommen, bedarf es eines Machtworts. Themawechsel. Und alles beginnt wieder von vorne. Es kommt dabei auch vor, dass die Gesprächsteilnehmer zwar hitzig debattieren, vom Inhalt her jedoch mehr oder weniger das Gleiche sagen, jedoch sich einer anderen Diktion oder Sichtweise bedienen, ohne es zu merken! Am Ende setzt sich nicht derjenige mit den besseren Argumenten durch, sondern der, welcher seine Kontrahenten nicht zu Wort kommen lässt. Für den Zurückhaltenden, der seiner guten Kinderstube eingedenk, vergeblich auf eine Redepause wartet, um in das Gespräch eingreifen zu können, eine wahre Geduldsprobe. Bis er nach mehreren erfolglosen Versuchen resigniert.

  Aber was geht da eigentlich vor sich? Warum wird man nicht müde, seine Halbbildung dem Rest der Welt lautstark kund zu tun? Ein interessanter Vorgang allemal!

 

   Wer kann sich heute noch des Eindrucks erwehren, dass unsere menschliche Gesellschaft in all ihrer pluralistischen Vielfalt auseinander zu driften scheint, wirtschaftlich, soziologisch, menschlich? Das kann einerseits fürchterlich nerven, andererseits lassen neueste Forschungsergebnisse erahnen, dass es auch inzwischen andere, ernst gemeinte Deutungen eines ansonsten hoffnungslosen Dilemmas geben könnten, die uns eine etwas mildere Beurteilung unserer Zeitgenossen (und unserer selbst) ermöglichen. Fortschreitendes Selbstbewusstsein, machtvoller Selbstverwirklichungsdrang und wachsende kommunikative Vernetzung ebenso wie die wirtschaftliche Globalisierung erlauben kaum noch eine mehrheitliche Einmütigkeit untereinander, über welche Themen auch immer. Die Beurteilung originärer Zusammen-hänge und ihrer Auswirkungen ist weitgehendst einer konsensfähigen, vorurteilslosen und ergebnisoffenen Betrachtungsweise entzogen, seitdem unseren volatiler gewordenen Lebensgemeinschaften allgemeinverbindliche Kriterien in einer ausufernden, kaum noch zu kontrollierenden Meinungsvielfalt abhanden gekommen sind. Die Frage scheint mir berechtigt: Was wollen wir „überhaupt“?

  Sah man in früheren Zeiten den Sinn des Lebens darin, durch die Einhaltung „göttlicher“ Gebote seiner Seele das ewige Leben in immerwährender Glückseligkeit zu sichern, so ist seit der Aufklärung diese Vorstellung hierzulande immer mehr ins Abseits geraten, ohne dass man Anstrengungen unternommen hätte, hierfür vollwertigen Ersatz anzubieten. Oder zu können, was verständlicherweise den indignierten Widerstand der betroffenen Institutionen herausfordern müsste.

  Auch das altbewährte Regulativ der Vernunft hilft da wenig weiter, da spätestens seit Kant die Kenntnis einer objektiven Wahrheit für unsere Wahrnehmungsorgane gar nicht fassbar ist und der Mensch sich nur auf seine subjek-tive Betrachtungsweise stützen kann. Aber die speist sich aus den unterschiedlichsten Quellen. Was wir nicht wissen, was sich unserer Wahrnehmung entzieht, existiert somit für uns nicht. So also erweisen sich einerseits Bildung und ein intelligenter Umgang mit den uns heute konfrontierenden Problemen als schlichtweg unverzichtbar, wie sich dement-sprechend die traditionellen Instrumente Theologie, Philosophie und Überlieferung hierfür zunehmend als untauglich erweisenen. Und das macht unser Leben verständlicher-weise auch immer komplizierter.

  Es ist die unaufhaltsam fortschreitende Wissenschaft, die uns neue Aufgaben einer immer komplexeren Welt aufnötigt, aber auch gleichzeitig die Grundlagen und Werk-zeuge für deren Bewältigung oft schuldig bleibt. Elementar scheint mir dabei die Erkenntnis, dass die Welt „an sich“ objektiv für uns nicht vollständig erfassbar ist, weil uns gesamtheitlich die hierfür unverzichtbaren Sinne, der Überblick und auch die erforderliche Zeit immer fehlen werden. So erschließt sich „unsere“ Welt unserem Intellekt einzig als kleinteiliger Ausschnitt, als Idee, oder wie es Arthur Schopenhauer formulierte, als Vorstellung und Wille. Die traditionelle Philosophie, die die Dinge „an sich“ verstandesgemäß zu erklären suchte, ist längst an ihre Grenzen gestoßen. So mutet es den aufgeklärten Beobachter des Weltengetriebes schon fast als Binsenweisheit an, wenn sich die Philosophie heute fragen muss, wo denn die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit überhaupt liegen, denn die treten immer deutlicher hervor, je mehr Wissen wir ansammeln. Das menschliche Gehirn, dieses Wunderwerk aus hundert Milliarden Nervenzellen mit einer halben Trillion Verknüpfungen untereinander, ist trotz all seiner unge-nutzten Kapazitäten in seiner Wirkungsweise endlich. Nichtsdestoweniger bestimmt es unser Denken und Fühlen, obwohl es uns nur soviel Erkenntnisfähigkeit zugesteht, wie uns das unserere persönliche Wahrnehmung ermöglicht.

  Die Forschung erlaubt uns, in kleinen Schritten die Wirkungsweise unseres kognitiven Apparates und der Denkstrukturen unseres Gehirns besser zu verstehen. Es könnte dies zur Versachlichung bei Problembewältigungen durchaus beitragen, wo diese doch immer offensichtlicher mit völlig antiquierten und untauglichen Arbeitsmitteln angegangen werden. Und dementsprechend auch erfolglos.

  In einem Artikel des Journals „Philosophical Transactions of the Royal Society B“ konnten Wissenschaftler der University of Nevada experimentell nachweisen, dass die politischen Ansichten eines Menschen zumindest partiell biologisch begründet sind. Demnach besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Betrachtungsweise einer Sache und der intellektuell geprägten Neigung, etwa zur Liberalität oder zu konservativen Werten. Hierbei erwies sich, dass der liberal Gesinnte emotional stärker auf angenehme Eindrücke reagiert als der Konservative, der länger bei unschönen Bildern verharren kann. So reagieren denn die einen heftiger auf positive Stimuli, die anderen auf negative. Es mag dieses Ergebnis vielleicht wenig über-raschen, doch zeigt es, wie bedeutsam biologisch fest-gelegte Merkmale beeinflussen können. Uns sollte es jedoch gemahnen, sowohl politische Differenzen als auch solche in den Angelegenheiten unseres Alltags zumindest teilweise in anlage- und wahrnehmungsbedingten Unterschieden zu sehen, anstatt den Andersmeinenden als uninformiert oder begriffsstutzig einzuordnen. Wir können daraus lernen, dass es nur bedingt zutrifft, wenn Konservative den Liberalen Realitätsferne unterstellen oder Liberale den Konservativen Halsstarrigkeit vorwerfen.

  Berücksichtigt man, dass die Aufmerksamkeit der Kontrahenten ihrer unterschiedlichen physiologischen Wahrnehmung geschuldet ist, so muss man zu dem Schluss kommen, dass beide Seiten Recht haben – jeweils aus ihrer Sicht.

 Die Londoner Universität veröffentlichte im „Current Biology“ Journal, dass Konservative nachweislich über ein größeres Angstzentrum im Gehirn verfügen. Untermauert wird diese These durch die Forschungsergebnisse New Yorker Wissenschaftler, die in „Nature Neuroscience“ veröffentlicht wurden. Sie bestätigen, dass Konservative eine größere Neigung zeigen, auf Bestehendem zu beharren, während Liberale Signale besser erkennen, die nach Änderungen von eingefahrenen Gewohnheiten verlangen.

 Die immer wiederkehrende Herausforderung, sich zu konsensfähigen Beschlüssen hin zu arbeiten zu müssen, sollte mit diesen Erkenntnissen zumindest leichter angegangen werden können. Doch hier öffnet sich wiederum ein neues Problem.

 Dürfen wir jemals mit der universellen Berücksichtigung derartiger Erkenntnisse rechnen? Zweifel sind angebracht. Die Tendenz zu kooperativem Zusammenwirken ist nach wie vor in unserer Gesellschaft mangelhaft ausgeprägt. Viel zu unterschiedlich sind Befindlichkeiten, Vorbehalte, Ängste und Interessen. Die unver-meidbaren Auseinandersetzungen darüber, mit all ihren negativen Begleiterscheinungen, werden auf unabsehbare Zeit unseren Umgang miteinander maßgeblich beeinflussen.

 

  Was mich offenbar als „Konservativen“ ausweist. Und das, wo ich manches doch gerne so ganz anders... 

 

updated 24. Februar 2017