Auf der Geisterbahn

Jorge Jacinto

 

  Als ich eines schönen Tages gewohnheitsmäßig die Zeitung aufschlug, verschlug es mir fast den Atem. Nein, es waren keine Sensationen, die mich verstörten, obwohl die Titelseite bereits nichts Gutes verhieß. Man erwartet ja auch nichts Positives mehr. Same procedure as everyday. Das Übliche halt. Im redaktionellen Teil häuften sich die üblichen Schreckensszenarien, allerdings diesmal mit einer nicht alltäglichen Wucht und Fülle.

 

  Die EZB kauft sich Zeit (wofür? Weiter so!) und überschwemmt den Finanzmarkt mit Geld zum Nullzins, das fruchtlose bildungspolitische Experimentierfeld um G8/G9 in den Landes- und Gemeindeparlamenten, fruchtlos bejammerten Gerechtigkeits-lücken beim Wohlstandsgefälle und garstige Kritiken an den geplanten und nach wie vor himmelweit entfernten Gesund-heits-, Renten-, Struktur- und sonstiger Reformen aller Art. Weiter: das Börsenkasino unbeindruckt im Schwebezustand zwischen Hoffen und Bangen, ergebnislose Gipfeltreffen der hohen Politik mit und ohne unliebsamen Spielverderbern, Getöse über den jeweils aktuellsten whistleblower . Das alles neben den alltäglichen Petitessen um Vergewaltigungen in Pakistan, Todesurteilen am laufenden Band in China, Chaos in Zentralafrika, Flüchtlingselend, Terror und Naturkatastrophen, garniert mit den unvermeidlichen Betroffenheits-Deklamationen derer, die schon alles vorausgesehen hatten und dem üblichen Klamauk um Fußballgötter, Rock im Park, inhaltsleerem Gezeter um Quoten und dem Schwachsinn vom Boulevard. Man hat sich schon fast an all die Alltagsemissionen aus dem Tollhaus gewöhnt. Aber der tagesaktuelle „Merkspruch“, dem jüngst verheiligten Papst Johannes Paul II. zugeschrieben, löste in mir doch eine so nicht vorhersehbare Reaktion aus. Da stand es, das Zitat ausgeheiligtem Mund:I

Ich habe noch nie einen Pessimisten

nützliche Arbeit für die Welt tun sehen.

 

  Punkt. Wie das? Nicht selten verführt ein irgendwo aufgeschnappter Aphorismus zu völlig unvorhersehbaren, manchmal sogar lustvoll ausufernden Erwägungen und Gedankenspielen. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Aussage des Multitalents Sir Peter Ustinov. Der behauptete, ein Optimist sei ein Mensch, der über unzureichende Informationen verfügt. Letztere, nach meiner Lebenserfahrung durchaus zutreffende Beurteilung, stimmt im Kontext zum Papstzitat nachdenklich: Ist der qualitative Zustand dieser Welt, bemessen nach seiner Brauchbarkeit, jeweils darauf zurückzuführen, dass es entweder zuviele Optimisten bzw. Pessimisten gibt?

  Dank Johannes Paul II. weiß ich nun, wissenschaftlich untermauert, dass ich ein Ausnahmefall sein muss.

Auch ohne mich in den Sinngehalt des Papstzitats zuvor vertieft zu haben, regt sich mit der anerzogenen Skepsis spontan der Impuls zum Widerspruch. Auch Pessimisten können ja nicht ganz nutzlos sein und versehen ihr Tagwerk auf irgend eine Art und Weise. Woher will der Urteilende wissen, wie dieses zu bewerten ist?

Was versteht er unter „nützlich“? Unter „Welt“? Darf man Zweifel erheben, dass die Sicht des Aphoristikers eventuell getrübt sein könnte? Betrachtet man den allgemein desolaten Zustand des Weltgetriebes, müsste demnach die menschliche Gesellschaft von desinformierten Optimisten oder nutzlosen Pessimisten dominiert sein. Der Wahrhaftigkeit naheliegender erscheint mir da ein Aphorismus des englischen Schriftstellers Herbert George Wells:

 

Den Fortschritt verdanken wir den Nörglern. Zufriedene Menschen wünschen keine Veränderung.

 

   Die Vorstellung, dass Jesus Christus ein zufriedener Mensch gewesen sein könnte, erscheint, nach allem was wir wissen, abwegig. Also auch er ein Pessimist? Oder ein unzufriedener Optimist? Wir wissen es nicht.

Dafür öffnet sich ein schier unerschöpfliches Spektrum von Mutmaßungen, Annahmen, Ahnungen, Erwartungen, Befürchtungen, Zweifeln und sonstigen Vorstellbarkeiten, die allesamt mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung beitragend, nur in diesem sich selbst ernährenden, unübersehbaren und gewollten Chaos wachsen und gedeihen können. Woher kommt es? Wohin führt es? Fragen über Fragen.

  Der Gebildete wird einwenden, dass die hier angesprochene Problematik mit all ihren Komplexitäten Verallgemeinerungen nicht zulasse. Stimmt! Erwartete Folgerungen verlieren sich in endlosen, zielgerichteten Argumentationen, ermüdend und ergebnislos, irgendwo im Nebulösen. Im Unterbewussten verfestigt sich das Uneingeständnis, dass der umfassende Überblick unterwegs abhanden gekommen sein muss. Wie legte doch Miguel Cervantes seinem Romanhelden von der Traurigen Gestalt die erhellenden Worte in den Mund:

 

Die Tatsache ist der Feind der Wahrheit.

 

  Man kennt es aus sattsamen Verlautbarungen von unseren Entscheidungsträgern, wo im Wust der Sophistereien und Halbwahrheiten das Leitbild vom „Großen Ganzen“ irgendwo auf der Strecke geblieben ist. Die Sieben Todsünden, versteckt im Dickicht der Partikularinteressen, machen die doch so wünschenswerte Mitwirkung des um seinen Lebensunterhalt besorgten Normalmenschen zum selbstmörderischen Wagnis.

  Spätestens hier fordert der sinnierende Geist zwingend den gewagten, eigenen Standpunkt. Nein, er kann diese Menschenwelt aus eigener Machtvollkommenheit nicht ändern, nicht bekehren. Das mit der Rettung der Welt restlos überforderte Individuum wird sich - sofern es sich nicht selbst zum Narren machen will - ersatzweise mit humorvoller Resignation ganz seiner eigenen Lebenswirklichkeit widmen und in selbstge-wählter Zurückgezogenheit seine intimen Freuden, seine Erfolge und seine Zufriedenheit suchen. Vielleicht würde er sie alle sogar im Verauf seines Erdendaseins finden, wäre da nicht der unüberhörbare Lockruf dieses und jenes, nach ewiger Seligkeit heischenden Kollektivs. Er ist verloren! Im unentrinnbaren Sog unserer rasant fortschreitenden Vernetzungskultur bleibt es ein gewagtes Unterfangen, Reste eventuell noch vorhandener Individualität vor einem Zeitgeist zu retten, der dem Charakteristikum „Geist“ allenfalls noch als Antonym zuzuordnen wäre. Aber zurück zum Anfang.

  Dort regt sich der heimliche Argwohn, dass das päpstliche Zitat vom unproduktiven Pessimismus auch so ein versteckter Antreiber einer postfaktischen Neigung zum Nihilismus sei: Wer nichts weiß, bleibt optimistisch.

Das festigt Staat, Kirchen und all die Kräfte im Dunkeln, die alles bewegen und die man nicht sieht.

 Grauenhaft? Aber nicht doch! Man nehme, wie empfohlen, solcherlei Gedankenlosigkeiten besser mit der entsprechend distanzierten Gelassenheit hin. War nicht so gemeint!

 

 updated 19. Oktober 2016