So ein Affentheater

 

 

 

 Seien wir ehrlich. Wir kommen nicht umhin, den Menschen, trotz oder gerade wegen seines unbescheidenen Anspruchs auf einen Sonderstatus inner-halb der „Schöpfung“, als ein gekünsteltes, unberechenbares und weitgehend verlogenes Wesen wahrzunehmen, das, seine tierischen Mitgeschöpfe weniger durch physische Überlegenheit, als durch List und Verschlagenheit ausste-chend, sich eigentlich als dämonischer Alptraum offenbart. Ob uns da andererseits ein „gutes“ Gewissen jenen beruhigenden Effekt bescheren kann, der es uns ermöglicht, sich in diesem Zustand auch einmal selbstgenügsam als „normal“ empfinden zu dürfen?

 

  Wie auch immer, es gibt genügend Schnittmengen mit unseren tierischen Vettern, die uns durch Rückschlüsse auf gemeinsame Evolutions-phasen bildhaft veranschaulichen, wie weit es mit der ebenbildlichen Analogie zu einer höheren Abkunft bestellt sein muss.

 

 

  Das Max-Planck-Institut für Anthropologie in Leipzig hat die Ergebnisse einer Forschungsreihe in den „Biology Letters“ der britischen Royal Society veröffentlicht, die offenbaren, dass der Sinn für Fairness als solcher begrenzt ist, ja in der Natur außerhalb der menschlichen Erfahrungswelt über-haupt nicht vorkommt. Das aufschlussreiche Experiment wurde an den, dem Menschen ähnlichsten Primaten, Schimpansen und Bonobos, durchgeführt, um herauszufinden, wie sich das Wesen der Fairness als wichtiger Bestandteil menschlicher Sozialität im Verlauf der Evolution entwickelte. Das Ergebnis lässt aufhorchen.

 

 

  An den Tests nahmen jeweils zwei Affen derselben Art teil. Dabei konnte ein Tier (der „Bestimmer“) dafür sorgen, dass es von insgesamt zehn Weintrauben entweder acht oder fünf bekam. Der Rest fiel an das zweite Tier, das in die Entscheidung des ersten nicht eingreifen konnte. Vergleichbare Tests gibt es beim Menschen. Wenn ihm statt der gerechten Hälfte der zehn Weintrauben (oder Kekse, Äpfel, Geldstücke) nur ein kleinerer Anteil von zwei der zehn Gegenstände angeboten wird, lehnt er oft alles ab – zu ungerecht erscheint dem machtlosen Mitspieler die Verteilung.

 

  Nicht so bei den Affen, berichten die Forscher. Wenn ein Tier die Möglichkeit hatte, mehr als die Hälfte zu nehmen, wurde diese durchweg genutzt. Dabei nahmen die Affen inkauf, dass ihr Gegenüber deutlich weniger erhielt. Der zweite Affe akzeptierte dennoch die Angebote des „Bestimmers“.

 

  „Weder für Schimpansen noch für Bonobos schien es wichtig zu sein, ob Nahrung gestohlen wurde oder ob das jeweilige Ergebnis fair war – solange sie überhaupt etwas erhielten“, so der Forschungsleiter.

 

  Zur Erklärung schrieben die Wissenschaftler, dass die Tiere womöglich gar nicht das Gefühl haben, zu kurz zu kommen oder zuviel an sich zu nehmen, weil sie das Konzept des Besitztums nicht kennen. Der „betrogene“ Affe nimmt daher klaglos alles an, was er bekommt. Beide Affenarten handeln als „rationale Maximierer“.

Die große Mehrzahl der am höchsten entwickelten Primaten – also der Großteil der Menschen – handelt weitaus umsichtiger und überlegt, welche Ungerechtigkeiten er mit seinem Tun anrichtet.

 

 

  Tausende Leser mochten am gleichen Tag den Text gelesen oder zumindest überflogen haben. „Da sieht man’s wieder: Der Mensch ist doch war ganz besonderes“, mochten viele gedacht haben. Ende.

 

  Aber da waren auch noch die anderen Affen an selbigem Institut, die sich einen Futterdiebstahl nicht gefallen ließen. Langfinger wurden postwendend bestraft, doch es war den Schimpansen völlig egal, wenn andere Kumpel bestohlen wurden. Dies führt die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass es dann, wenn es keine Möglichkeiten der Sanktionierung gäbe, würde auch die Kooperationswilligkeit innerhalb einer Menschengruppe nachlassen, sobald sich einzelne Indivi-duen eigennützig verhalten. Ja, stimmt. So etwas kennt man. Und dann sind da noch die Kapuzineraffen der Emory University im amerikanischen Georgia.

 

  Sie lehren uns, dass Lebewesen, die Absichten haben, die ihnen bewusst sind und die auch Absichten bei anderen erkennen können, durchaus Ansprüche besitzen, wie man sie behandeln soll und wie nicht. Das Bedürfnis, nicht unfair behandelt zu werden, ist ihnen durchaus wichtig, was den Schluss nahe legt, dass ein wie auch immer gearteter Anspruch auf gerechte Behandlung als intuitives Bedürfnis Teil der menschlichen Natur sein muss. Nicht die Fairness an sich ist demnach ein Grundbedürfnis, sondern dessen Abwesenheit – erst die „ungerechte“ Behandlung führt zu Reaktionen.

 

 

  Das erinnert mich an eine Anekdote. Da war der berühmte Ästhetiker Friedrich Vischer. Er stand mit einem Freunde vor dem Schimpansen im Frankfurter Tiergarten. Der Affe sah missmutig drein. Da sah ihn Vischer mitleidig an und sagte: „Gelt, du bischt halt bigott traurig, dass du’s Exame zum Mensch nit bestande hascht.“

 

 

 

 So etwas lässt weiteres vermuten. Man hat das unbestimmte Gefühl, dass hier in dieser Nachricht – sozusagen zwischen den Zeilen – etwas viel bedeutenderes ans Tageslicht drängt. Kann es denn sein, dass die Natur, entgegen meiner gefestigten Überzeugung, Ausnahmen zulässt? Und man fragt sich, wie es denn mit den Hochzielen „Fairness“ und „Gerechtigkeit“ im menschlichen Miteinander tatsächlich bestellt ist. Fairness in einer auf Wettbewerb eingeschworenen Gesellschaft: ist das überhaupt grundsätzlich möglich bei so unterschiedlich verteilten Chancen und Voraussetzungen? Schon bald wird erkenntlich, dass hier ein unvereinbarer Gegensatz in sich vorliegt. Wie verhält sich das noch bei dem so sehr auf Fairness ausgerichteten Sport mit der Chancengleichheit? Gleiche Regeln für alle, soviel war schon immer klar. Aber wie ist das mit den Trainingsbedingungen, der Betreuung, der Ernährung, dem Talent? Hat nicht der Wettbewerb um Prestige und wirtschaftliche Vorteile das ganze System schon längst korrumpiert? Und dies schon so weit, dass man selbst vor unerlaubten Hilfsmitteln nicht zurückschreckt – trotz Disqualifikations- und Strafandrohung? Wurde jener Betrug nicht gar von höchsten staatlichen Stellen betrieben oder zumindest geduldet? Wie heißt es noch in dem Artikel: es sei das Konzept des Besitztums, das uns Ungerechtigkeiten erkennen lässt? Ist auch hier eine abgewandelte Form der Gier erkennbar, der Gier nach Überlegenheit?

 

  Die Frage wäre zu beantworten: Haben wir Menschen etwa einen statthaften Anspruch auf Gerechtigkeit? Ist es der Sinnesreiz von gefühlter Ungerechtigkeit, der uns mit unserem Schicksal hadern lässt? Nein, Naturgesetze erlauben keine Ausnahmen – soviel ist unbestreitbar. Es musste der zivilisatorische Fortschritt dafür verantwortlich sein, der uns mit der Einführung des Ackerbaus, von Sesshaftigkeit, von Besitz, des Austauschs von Gütern und der Erfindung des Geldes das Prinzip von Gerechtigkeit beschert hatte. Nüchtern betrachtet, handelt es sich hierbei um ein Hilfsmittel, das uns die Abwägung von Verhältnismäßigkeit erleichtern soll. Mehr nicht. Die Experimente mit den Affen legen nahe, dass es sich bei der Gerechtigkeit allenfalls um ein Requisit handelt, das naturgemäß der jeweiligen Beliebigkeit des Zeitgeistes und dem parteiischen Ermessen der Betroffenen anheim gestellt ist. Es gibt sie nicht als Tatsache. Die nicht mit Besitztum konfrontierte Natur scheint ohne die von uns so hoch bewertete Gerechtigkeit gut zurecht zu kommen. Sie demonstriert dies auch überall und ohne Unterlass. Uns, mit kulturellem Gepäck vorbelasteten Menschen indes hat sie mit einem unerfüllbares Kriterium ein unstillbares Sehnen aufgebürdet. Für immer in letzter Konsequenz unserem Einfluss entzo-gen, muss sich der Mensch bestenfalls mit dem Zerrbild einer letzten Gerechtigkeit begnügen. Was aber wäre wohl das Leben ohne diese Illusion? Wären wir dann weniger unglücklich, weniger auf einen Ausgleich in esoterischen Welten fixiert? Soviel ist fast sicher: Das Leben wäre mehr denn je - ein Abenteuer!

 

  Auch wir Heutige werden die Erfahrung machen, dass es uns schwerer fällt, etwas Unvertrautes zu verstehen, ja verstehen zu wollen, als etwas uns bereits Bekanntes weiter zu verbreiten. Was letztlich davon ankommt, liegt nicht nur an der Lernfähigkeit des Empfängers, sondern auch auch an unserem persönlichen Verhältnis zum Lehrmeister. Doch ermangelt es uns nicht allzu oft gerade an allen nötigen Voraussetzungen? Man verweigerte sich arglos und miss-trauisch gerne dort, wo Wohlmeinende und auch Verführer sich ernsthaft darum bemühten, uns irgendetwas neues beizubringen. Alles das, was wir darüber hinaus letztlich aufnahmen, mussten wir als gebrannte Kinder mit allen Risiken und Folgen uns selbst aneignen, nur um den übrigen Rest früher oder später zu vergessen...

 

updated 24. Februar 2017