Auszeit

   Hin und wieder geschieht es. Es tritt ein Ereignis ein, das den in seiner Selbstherrlichkeit gefangenen Erdenbewohner in eine andere Wirklichkeit befördert - oder zurückholt. Unwesentlich, ob nun dieser Vorgang vorhersehbar war oder „aus heiterem Himmel“ geschah. Und plötzlich ist die Welt eine andere. Dir wird bewusst, wie fragil, wie klein und zerbrechlich dein bisheriger Wirkungsbereich ist.

 

Da liegst du nun, als einer von den Vielen,

Die mit dir leiden in der langen Nacht;

Verflogen das Gewölk von eh’mals hehren Zielen,

Wo nun Gekrächz der Krähen draußen dich verlacht.

 

Der Nachbar nebenan, er kämpft für sich, verloren,

Und du liegst da, von Ohropax geschützt,

Spürst deinen eignen Pulsschlag dumpf in deinen Ohren

Und fragst dich, ob dies Ausgesperrtsein etwas nützt?

 

Hilflos bist du, gewiss, und dennoch nicht allein.

Fühlst dich jetzt überflüssig, wenn nicht gar absent!

Mit all dem blut’gen Abfall und der ganzen Pein

Erlebst du dich als „da“ und ebenso gewiss präsent.

 

Unmöglich schiens, als du noch gestern warst on tour;

Ein neues Zeitgefühl hat sich inzwischen eingestellt.

Ganz losgelöst von dem Diktat der Uhr,

Hat eine andre Bühne dir deinen Zustand aufgehellt.

 

Erinn’rung an den Wahnsinn ganz da draußen,

Wo gute Menschen werkeln vor sich hin:

Wie muss es mir vor all dem Werkeln grausen,

Wenn ich dann, wieder einmal, auch da draußen bin?

 

Dort hat sich alles, alles weiter fortbewegt,

Obwohl es dennoch tritt in Wahrheit auf der Stelle.

Was nicht mehr herpasst, das wird abgelegt!

Und jeder Skooter kriegt so seine individuelle Delle.

 

Das Chaos aber keimt sich immer weiter

Und fordert neue Biotope für die Herde,

Schlägt plündernd neue Schneisen, immer breiter,

Der Ohnmacht durch die fühllos duldend Erde.

 

   Und doch sind beide erlebten Bereiche Teil des gleichen Ortes. Das also aufgeschreckte Bewusstsein fragt sich, ob denn dieser oder jener Teil „unwirklich“ sei, und wenn ja, welcher. Du bist über eine Brücke der Illusion gegangen. Aber ist nicht auch Illusion Wahrheit, nicht Erleuchtung Wirklichkeit? Wäre Illusion unwirklich, gäbe es dann überhaupt diese uns vertraute Welt? Ist es nicht so, dass alles was wir glauben zu existieren beginnt?

   Fragen über Fragen. Ein Hinweis in der Tagespresse verkündet, dass in den nächsten Tagen ein emeritierter Philosophieprofessor einen Vortrag unter dem Titel „Philosophische Argumente zur Existenz Gottes: Plato, Augustinus, Martin Buber“ halten wird. Der gewaltige Zeitrahmen verrät, dass bis dato die Argumente eben nur Darlegungen geblieben sind. Darstellungen auf hypotisierenden Gedanken mit all den integrierten Denkfehlern inklusive. Und mehr noch: Eine unerschöpfliche Fundgrube für Paradiesanwärter und Fundamentalisten.

   Eingedenk der Ohnmacht individuellen Einwirkens auf die Geschicke einer, in unabsehbaren, gnadenlosen Verstrickungen gefesselten Menschheit, scheint sich so die pragmatische Frage nach Erlösung zu erübrigen. Viele haben es versucht – vergebens. Welche Strategie verbleibt also dem verantwortlich empfindenden Individuum zur gesegneten Inszenierung seines komplexen Erdendaseins? Zur Bewältigung einer Aufgabe, für die er sich nicht aufgedrängt hat und möglicherweise auch gar nicht verpflichtet fühlen müsste? Es scheint hoffnungslos, darauf eine befriedigende Antwort zu finden. Das einfache, schmerzvermeidende, von keiner ideologischen Überfrachtung getrübte Hineinleben in den Tag – ist das der Schlüssel?

   Woher nehmen wir überhaupt die Anmaßung, dass alles einem übergeordneten, dem menschlichen Ordnungssinn genügenden Weltenplan unterstellt sein müsse? In einer dergestalt unüber-sichtlichen Welt, wo nicht einmal auch nur eine geringste erkennbare Spur das Vorhandensein einer glaubwürdigen Gesetzmäßigkeit andeutet? Eine, die sich durch überzeugende Verhältnismäßigkeit zu universeller Akzeptanz anbietet? Vielleicht wäre dies dann nicht die schlechteste Alternative. Aber dennoch.

   Da wäre noch ein Aspekt, der das ganze große Welttheater in einen Albtraum verwandeln könnte. Es ist ein verhältnismäßig kleiner Teil der menschlichen Gesellschaft, der in sich das Potenzial innovativen Fortschritts trägt. Es mögen etwa zehn gemutmaßte Prozent sein. Weitere dreißig Prozent sind wohl als indifferent einzuschätzen; dieser Teil kann durch Zuhilfenahme seiner Verstandeskräfte überzeugt werden, sich für die gute Sache zu engagieren. Der völlig kontraproduktive, zerstörerische Rest ist dafür gänzlich verloren. Berücksichtigt man, dass  nach Darwins Erkenntnis der stärkere Teil dominieren wird, so hat sich dies bereits in den bestehenden Verhältnissen weitgehend bestätigt: Der Mensch hat sich gegenüber dem Rest der lebenden Natur eine geradezu unvergleichliche Dominanz verschafft. Wird er sie voller Verantwortung nutzen oder nach den Gesetzen des Stärkeren ausbeuten? Das bisherige Ergebnis lässt Schlimmes befürchten.

   Und noch etwas verdeutlichte sich immer klarer bei unserer Suche nach dem „heiligen Gral“ der Erleuchtung. Ist es nicht die naive Vorstellung spießbürgerlicher Geistesakrobaten, dass es doch unbedingt irgendwo eine unwiderlegbare Wahrheit geben müsse, die alles ein für allemal umfassend erklärt? Eine, die alle Gegensätze in sich vereint und auflöst? Und, die zu finden, letztlich der eigentliche, tiefere Sinn des Lebens sei? Eingedenk des zur Verfügung stehenden, beklagenswerten Handwerkszeugs für eine solche Monsteraufgabe und limitierter Zeit muss doch dieser übersteigerte Wahn in die Irre führen und unweigerlich scheitern. Alle unsere schönen Glaubens-systeme, Wolkenkuckucksheime, Philosophien und mystischen Entgleisungen tragen in sich den Stachel des Irrtums. Außer einer.

   Der fragende Geist begreift, dass es seit jeher nur diese eine Auslegung, diese einzige „Weltformel“ gab, die keine Widersprüche in sich birgt. Die Gewissheit, dass eine solche, wie auch immer gedeutete, noch nie existierte und ergo als selbstsüchtig geschaffenes Wunschbild seit dem Anfang der Zeiten die Menschheit narrt! Es erfüllt diesen, nachdem sich eine anfängliche Betroffenheit verflüchtigt hat, mit tiefer Genugtuung und innerem Frieden. Es war ja so unglaublich einfach.

   Einfach? Wir müssen nur unseren Verstand gebrauchen. Vielleicht doch die schwierigste aller Aufgaben…

                                                                                                                                                  15. Januar 2014