Der ewige Wanderer

 

 

  Dasein! Es sollte eigentlich als Privileg gelten, eine faszinierende, schaurig-schöne wie auch gefährliche Welt einmal durchleben zu dürfen, meinetwegen auch als beneidenswerte Zufälligkeit. Eine Ausnahme ist es auf jeden Fall. Aber glücklich? Beneidenswert? Darüber ließe sich räsonieren. Einmal in dieser Mission angetreten, merkt der Mensch allzu bald, dass der Lauf der Welt sich nicht so recht in seinem Sinne vollzieht. Er stellt fest: Da draußen lebt man anders! Bald schon danach hätte auch er es gerne einmal anders, und er beginnt zu vergleichen und darüber nachzudenken, was da nicht „richtig“ läuft.

 

 Einerseits konfrontiert mit einer gefühllos reagierenden „Schöpfung“ samt ihren naturgesetzlichen Zwangsläufigkeiten, andererseits mit den Machenschaften seiner Mitmenschen und Mitbewerber, neigt er frühzeitig dazu, Ursachen und Wirkungen zu kategorisieren: in Verständliches, was fortan bei ihm als „gut“ firmiert, und in Unverständliches, was generell als zweifelhaft oder „schlecht“ , zumindest aber als bedrohlich einzustufen ist. Spätestens wenn er sich mit Wesen und Begründungen seiner gefühlten „Ungerechtigkeiten“ auseinandersetzt, wird ihm mit dem Fortschritt seiner Bemühungen zunehmend deutlicher, dass er ein Fass ohne Boden aufgemacht hat. Je tiefer er forscht und Argumente sammelt, desto mehr wird ihm bewusst, für immer vom ewigen Quell der Weisheit und dem Wissen um die letzten Dinge ausgeschlossen zu sein. Es bleibt ihm in diesem Dilemma die Wahl zu resignieren und seine ungeklärten Probleme ins Mystische zu verlagern, durch Verdrängen seinem natürlichen Egoismus stattzugeben und Unliebsames aus dem Weg zu räumen oder mit dem angeeigneten, lückenhaften Wissen nach bestem Vermögen weise zu verfahren. Letztere Option ist nicht nur die vielleicht unbefriedigendste, aber ganz sicher die anspruchsvollste. Und womöglich die aufregendste. Und die edelste.

  Fluch und Segen einer verfügbaren, Intelligenz und einer über die Jahre entwickelten Fantasie liegen nicht nur eng beieinander; die darin enthaltenen Vieldeutigkeiten beschäftigen ihren menschlichen „Wirt“ gewollt oder auch ungewollt zeit seines Lebens, sind potentielle Ursachen für euphorisches Glücksempfinden ebenso wie für tiefe Niedergeschlagenheit. Und immer verbleibt ein Rest unbefriedigter Sehnsucht. Diese Erfahrung lässt sich einigermaßen angemessen etwa so umschreiben, dass unsere süßesten Erinnerungen im einmal ersehnten Ungeschehenen zu finden sind. Wer dies als seine Wahrheit erkannt hat, muss sich auch gleichfalls mit der Tatsache abfinden, dass ihm folgerichtig nur der Verzicht auf die Verwirklichung seiner Fantasien, ob freiwillig oder zwangsläufig, jenes angestrebte, beglückende Empfinden verschaffen kann. Diese Form der Askese aber schließt gleichzeitig die Erreichbarkeit eines bedingungslosen, unbegrenzten und erschöpfenden, aber ebenso illusorischen Glückszustands im landläufigen Sinne unbedingt aus.

  Grenzen des Menschseins! Schon das Bewusstsein, dass es einer höheren Erkenntnisfähigkeit als der eigenen bedarf, um sich selbst begreifen zu können, kann den Suchenden an den Rand der Verzweiflung treiben. Doch warum fällt es so schwer, sich mit dem scheinbar Unabänderlichen abzufinden oder gar anzufreunden? Trotz allem: Es sucht der Mensch, solang er lebt…

  Jeder besseren Erkenntnis zum Trotz, quält der sich noch im Nachhinein mit dem Preis herum, den er für sein Menschsein berappen musste: der ewigen Ungewissheit, der Angst, etwas zu verpassen, der bösen Ahnung, unehrlich zu denken und zu handeln, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, ahnungslos und uninformiert im Nebel zu stochern und dergleichen mehr. Tiere haben dieses Problem nicht. Ob sie glücklicher sind? Egal, es nützt ihm wenig, ob oder ob nicht: Die Unsicherheit bleibt.

 Das ganze wäre gefühlt halb so schlimm ohne den unbarmherzigen Faktor Zeit. Man könnte sich ja soviel Zeit lassen mit seiner Suche, tickte da nicht die biologische Uhr völlig ungerührt im Hintergrund. Was einst so unbeschwert, ja spannend begann, wird mit zunehmendem Alter immer fordernder und lastet schwerer und schwerer auf dem Gemüt als unbedienbare Hypothek und ewige Mahnung.

 

                            Endlos, scheint es, ist unsre Zeit:

                            Wir können über sie verfügen

                            Ganz nach Belieben, meinen wir.

                            Das will erst mal genügen.

 

                            Doch endlos scheint sie nur indessen!

                            Wir leben so, vom Tag geblendet,

                            Als ob die Zeit nicht existent -

                            Weil wir nicht wissen, wann sie endet.

 

  So geht sie denn dahin, die Zeit, und wir mit ihr samt unseren Sehnsüchten, Hoffnungen, Fluchtversuchen und Wünschen. Und auch unsere Suche nach all dem Wissen um Dinge, die sich uns so hartnäckig zu verweigern scheinen, endet irgendwann im Nebel des Vergessens. Unbeachtet, wortlos, still. Ein Grund zur Traurigkeit? Zur Melancholie?

  Es ist eine wenig zweckdienliche Besonderheit des Menschen, sich andere Verhältnisse vorstellen zu können und seine eigene Situation mit Wunschbildern und Fantasien zu vergiften. Dabei ist er doch durchaus in der Lage zu begreifen, dass nicht die Häufung vermeintlicher Wohltaten ihm nachhaltig das erstrebte Glück zuteil werden lässt, sondern die Reduzierung seiner Wünsche und Sehnsüchte.

  Allein – es bedarf einer schmerzlichen Läuterung, sich seines Irrwegs bewusst zu werden und seine Wunsch-vorstellungen dort zu suchen, wo sie sich ihm widerstandslos und willig eröffnen. Das „Teufelswerkzeug“ ständiger Versuchungen lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Nein, man mag es irgendwann nicht mehr hören. Vielleicht eben deswegen, weil man ahnt, dass es tatsächlich so oder so ähnlich sein muss und uns unser ganzer Jammer letztlich dauert. Gottlob funktioniert unser Verdrängungsmechanismus in der Regel noch ganz prima. Irgendwo ist da wohl wer, der alles richten wird.

  Und sei es Freund Hein.

updated 17. September 2016