Der abgemeldete Souverän

Stone home

 

 

Es war - wieder einmal - Zeit für inhaltsreiche Gedenktage. Der Anlass: Siebzig Jahre Frieden nach dem zerstörerichsten Krieg aller Zeiten. Hier Jubelfeiern mit Militärparaden, dort mahnende Stimmen und pathetische Betroffenheiten auf der Suche nach Ursachen, nach Schuld und Schuldigen für alles das, was niemals hätte geschehen dürfen und niemals mehr geschehen darf. Doch schon ist der Geist originärer Seherkunst längst dem Galgenhumor bitterer Erfahrung gewichen. Trotzdem: Menschen in verantwortlichen Führungspositionen äußerten sich pflichtschuldig zur Tagesordnung. Nie wieder Krieg? Nein, den gibt ihn immer noch wie eh und je. Die schwelenden Konflikte, die zeitgemäßere Thematisierung fordern, sind permanente Spätfolgen vorausgegangener Katastrophen, Fehlentwicklungen und neuen Irrtümern. Das soll sich nun also ändern - irgendwie...

  Die weltweite Entkolonisierung samt der Gründung der so genannten „Vereinten Nationen“ als zukunftsweisende Schritte zu einem umfassenden Weltfrieden, sind samt ihrem ursprünglichen Sinngefüge bereits wieder obsolet, durch neue Entwicklungen überholt und durch alternative Formen der Ausbeutung und Einschüchterung ersetzt. Die Grenzveränderungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in ihrer ganzen Komplexität bis dato weder partnerschaftlich aufgearbeitet noch rechtlich abgesichert, liefern weiterhin unerschöpfliches Konfliktpotenzial sowohl in den „Heiligen Ländern“ des Nahen Ostens, den bankrotten Diktaturen Asiens und Südamerikas, wie auch in den Randzonen der ehemaligen Sowjetunion. Gescheiterte Staatsgefüge, handlungsunfähige Regierungen, mafiose Privatmilizen, Korruption und machtbesessene Religionsfanatiker lassen in den beherrschten, mehr oder weniger rechtsfreien Räumen, keine konstruktiven, dem Gemeinwohl verpflichtete Lösungen zu. Fehlentwicklungen dies? Chaotische Trümmerlandschaften elementarer Unvereinbarkeiten? Oder doch zutiefst dem aller Natur innewohnenden Impuls geschuldet, sich im Kampf ums Überleben selbst eine vorteilhafte Position zu sichern? Wohl ein wenig von alledem.

  So war und ist denn der 8. Mai 1945 hierzulande für die einen der Tag der Befreiung, für andere lediglich ein Adressenwechsel in neue Unmündigkeit. Für einige gar Markstein einer schmerzlichen Niederlage. Das ganze Spektrum also. Und neue Begehrlichkeiten stehen im Raum.

  Hilflosigkeit beschreibt am ehesten die Effizienz unserer Tagespolitik. Die ist eine andere als die, mit der sich die vergeblich an Symptomen ungelöster Probleme abmühenden Gewählten gerne darstellen. Ein monströser Berg drängender Zukunftsaufgaben hat sich über verschlafene Jahrzehnte angehäuft, ohne dass glaubhafte Ansätze zur Thematisierung in den politischen Feldlagern sichtbar sind. Stattdessen: Kanzelreden, Seelenmassage, Wahlkampf, Absichtserklärungen. Der politische Verfahrensprozess, der sich dem hehren Ziel der Schadensabwendung und Nutzenvermehrung verschrieben hatte, ist weitgehend unterbunden; das Fehlen einer effektiven demokratischen Opposition in den Parlamenten, die zunehmende Verlagerung selbst systemrelevanter Entscheidungen hin zu Gremien ohne demokratische Legitimation, selbst bewerkstelligt durch den „Souverän“, dem einst eine idealistische Gründerversammlung alle Macht zubilligte: Alles das hat einem Ohnmachtsgefühl im sich immer abkömmlicher fühlenden Wählervolk Platz gemacht. Dessen schwindende Anteilnahme kommt dem neuen Politikstil durchaus entgegen und bewegt sich in beängstigenden Beteiligungsprozenten weiterhin abwärts in Richtung Selbstabschaffung. Dahin ist das Vertrauen in Kompetenz und Unabhängigkeit unserer Staatenlenker, ja in die Gestaltungskraft der Politik schlechthin; dafür aufkeimende Beklemmung, die Weltläufte am Ende ganz dem Schalten und Walten von Finanzern und Konzernen überlassen müssen.

  Die prinzipientreuen Demokratien stehen vor epochalen Herausforderungens im eigenen Haus, doch die zur Implementierung demokratischer Werte Beauftragten scheuen mit Blick auf Karriere und Wiederwahl allzu gerne unausweichliche, unpopuläre Entscheidungen. Stattdessen Abspeisung der Bürger durch ablenkenden Aktionismus mit nachrangigem und unnützem Beiwerk, von einer ohnmächtigen Scheinopposition routiniert als falsch, zumindest aber als zu spät oder nicht weitgehend genug, ebenso lautstark wie wirkungslos abgekanzelt: Demokratie als unverdächtiges Vehikel perfider Rituale?

  Die weitreichende Empathie für die beklagenswerten Opfer geduldeten politischen Fehlverhaltens unserer Demokratien, hat sich jene infamen Verfahrensweisen selbst zunutze gemacht und den unausrottbaren Hegemonialbestrebungen auf allen Ebenen eine neue Nuance hinzugefügt: der Gutmensch. Allesamt Erzeugnisse egozentrischer Gier und der Angst vor den unkontrollierbaren Folgen und ihrer Nachwehen, erzeugen sie ein Fluidum aus Misstrauen und, gepaart mit den drohenden Einforderungen alter Rechnungen, ein Gefühl von Beklemmung, ohne dass wir auf vorgesehene Rücklagen zurückgreifen können. Eine fatale Situation.

  Nach verlässlichen Angaben internationaler Organisationen haben bewaffnete Konflikte siebzig Jahre nach jenem Desaster so viele Menschen zu Vertriebenen innerhalb ihres eigenen Landes gemacht, wie wahrscheinlich nie zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Zahl der so genannten Binnenflüchtlinge stieg damit um elf Millionen - das sind im Schnitt 30 000 an jedem Tag - und erreichte einen neuen traurigen Rekord von 38 Millionen Menschen. Das entspricht etwa der Bevölkerung von New York, London und Peking insgesamt. Hinzu kommen die Flüchtlinge, die unter höchstem persönlichen Risiko Zuflucht außerhalb ihrer Herkunftsländer suchen. Auch hier erschrecken die Zahlen mit einer Steigerungsrate innerhalb eines Jahres von 100% allein für die Zuwanderung in die Bundesrepublik für das Kalenderjahr 2015. Und es wird weiter gehen, unaufhaltsam. Wie lange? Seit 20 Jahren Flüchtlingselend hat selbst eine geschätzte „Verlustrate“ von 25 000 Menschen, die ihre Flucht ins gelobte Land Europa mit ihrem nassen Ende begraben mussten, weder eine Lösung des Problems, nicht einmal eine Denkpause bewirken können. Doch nun eine weitere, vielleicht noch größere Zwangslage.

  Die eingeforderte Hilfsbereitschaft wird, zumindest in einigen EU-Staaten, vom gängigen Mainstreamdenken beflügelt und weitgehend getragen. Einige indessen beurteilen die Situation pragmatischer und bevorzugen eine andere Vorgehensweise - bis hin zur Totalverweigerung. Hier empört sich der Gutmensch. Die sich zuerst aufdrängende Lösung des Problems wäre natürlich die Schaffung zivilisierter Lebensbedingungen weltweit; leider aber auf absehbare Zeit undurchführbar wegen fehlender oder unkooperativer staatlicher Autoritäten in den Krisenregionen - und den Geschäftsinteressen zahlloser Profiteure.

  Also doch Krieg mit unabschätzbaren Kosten an Menschenleben und Material? Allein der Gedanke hieran verbietet dem werteorientierten Abendländer eine solche Option. Andererseits zeigen die diversen Abwehrreaktionen gegen mehr oder weniger diffuse Überfremdung wenig Hoffnung für ein gutes und nachhaltiges Miteinander in einer fernen Zukunft, egal wo. Der amerikanische Bürgerkrieg endete vor fast 150 Jahren mit der Abschaffung der Sklaverei; trotz Beseitigung der Rassentrennung und großer Fortschritte ist der Traum von Martin Luther King immer noch eine Vision. Und das, obwohl hier keine Ideologien, religiöser Fanatismus oder Verweigerung demokratischer Rechte für die immer wieder aufflammenden kleinen Unruhen ursächlich sind. Die Konfrontation zwischen den „abendländischen Werten“, die sich - wie erwähnt - zunehmend selbst in Frage stellen und der verworrenen Verschiedenartigkeit innerhalb der Zuströme ist indes von anderer Gewichtigkeit. Man erahnt wegen der augenfälligen Aussichtslosigkeit einer einvernehmlichen, friedlichen Verschmelzung sichtlich unvereinbarer Elemente, warum die Politik, ja selbst die Wissenschaft davor zurückschreckt, die Konsequenzen ungebremster Wanderungsströme überhaupt zu thematisieren. Politischer Suizid für die einen, Profiteinbußen für die anderen.

  Stattdessen erleben wir eine zunehmende Hysterie, die mit ihrer Gefühligkeit den rationalen Diskurs irgendwann ganz abzuwürgen droht. Die dezidierten Krisenbewältiger sind samt ihren Strategien nach jeder Krise gewöhnlich immer noch qualitativdieselben wie die vor der Krise, was die Vermutung bestärkt, dass die Politik sich auch immer weniger auf die öffentliche Tuchfühlung angewiesen sieht. Ihr genügt es, Eliten und „Märkte“ von der Richtigkeit ihres Tuns zu überzeugen und sich so elegant der moralischen Fesseln und einer desillusionierten öffentlichen Kritik zu entledigen. Die zum Teil verheerenden Wahlbeteiligungen sind ein unübersehbares Warnsignal für den Zustand unserer Demokratie.

  Das Menetekel von der sich selbst abschaffenden Republik schreckt periodisch die selbstzufriedene Wohlstandsgesellschaft aus ihrer Lethargie, wo sie sich über die Jahre in ihrer prätentiösen Befindlichkeit häuslich eingerichtet hat und verwandelt sich in einen aufgeregten Hühnerhaufen. Dabei ist es doch eher die Politik selbst, die im Begriff steht, durch eigene Initiativlosigkeit und Kompetenzverweigerung zugunsten der Rechtsprechung ihren Gestaltungsauftrag selbst in Frage zu stellen.

  Noch auf einige weitere Merkwürdigkeiten sei hingewiesen. Wir nehmen zur Kenntnis, dass unsere europäischen Nachbarn sich darüber verwundern, was uns hierzulande als Problem deucht und wie wir damit umgehen zu müssen vermeinen. Dabei wird gerade durch die von den Wortabschneiderparteien so aufgeregt verteufelte These vom angeblich gengesteuerten Volkscharakter der Verdacht befeuert, dass da trotz allem „etwas dran“ sein könnte.

  Vorverurteilungen, Mangel an Gelassenheit und Humorlosigkeit zeugen wenig von einem souveränen, unverkrampften Verhält-nis zur Meinungsfreiheit. Plakative Pauschalierungen sind nie sonderlich gescheit und kaum hilfreich, jedoch für viele durchaus reizvoll. Ein typisch deutsches Phänomen?

 

  Die Orientalen sind ein gescheites Volk, sie verehren einen Verrückten

wie einen Propheten,wir aber halten jeden Propheten für verrückt.

 

  Das schrieb vor etwa 180 Jahren ein deutscher Dichter und Journalist, dessen Schriften hierzulande zeitweise verboten wurden und der es vorzog, bis zu seinem Ende im Land des seinerzeit geschmähten „Erbfeindes“ zu leben, wo er denn auch seine letzte Ruhestätte fand. Immer wieder verfemt bei seinen Landsleuten, hat man ihm den Einzug in die heiligen Hallen der Walhalla verweigert, obwohl sein Werk zum Besten zählt, was die deutsche Literaturszene hervorgebracht hat.

  Die Anfangszeilen seines wohl bekanntesten Gedichts lauten:

 

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin...

 

updated 18. Oktober 2016