Nebelkerzen

Sam Schechter

 

  Es bestätigt sich immer wieder neu. Die beharrlich innerhalb unserer Tagesthemen beschworenen tatsächlichen und/oder idealistischen „Werte“ verkündigen sich lautstark mahnend immer dann bei Gefahr eines drohenden Verlustes; ansonst begnügt man sich mit den hehren Kulurgütern als Sammelsynonyme für gesetztes Wohlleben mit Rundum-Zufriedenheitsgarantie. Außen vor bleibt dabei die kritische Abwägung der Interessensphären ihrer Nutznießer und die unterschiedlichen Ausdeutungen besagter Werte. Orientiert an den Idealen konkurrierender kultureller, religiöser und sozialer Doktrinen innerhalb divergierender Entwicklungsphasen, sind diese in den seltensten Fällen miteinander kompatibel. Die Lebenserfahrung bezeugt, dass auch Moralempfinden lenkbar ist und dem jeweiligen Zeitgeist, der Mode und den Eigeninteressen von Profiteuren und ihren Trittbrettfahrern auf unterschiedlichste Art den schuldigen Tribut zollt. Das plötzliche, ungesteuerte Zusammenprallen doktrinär erzeugter Unvereinbarkeiten ohne die Bonifikation des evolutionären, praxistauglichen Zusammenwachsens führt unausbleiblich zur Anarchie, von der grundsötzlichen Infragestellung aller Werte bis hin zur faktischen Abschaffung. So weit, so schlecht.

  Es beginnt beim Krieg der Wörter. Eine alte Volksweisheit besagt, dass wenn zwei dasselbe sagen, dies nicht notwendigerweise auch dasselbe sein muss. Seit jeher dient gezielte Sprachverwirrung als effektives Werkzeug der Propaganda allerorten. Als dankbares Beispiel sei hier das Adjektiv „populistisch“ angeführt, von der gesamten Medienwelt als abwertendes Prädikat bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit unters Wählervolk gestreut. Auch der hofierte Normalbürger, von der ursprünglichen Konnotation der lateinischen Vokabel meist ahnungslos, hat aber inzwischen gelernt, dass damit etwas negatives gemeint ist. Die Ableitung von poularis - populär, zum Volk gehörend, volkstümlich, wurde im politischen Sinne über den „Populismus“ weiterentwickelt zu einem vom Opportunismus geprägten Terminus, sich also von der Volksnähe wandelnd hin zur Demagogie, mit dem Ziel, durch Dramatisierung von Zuständen die Gunst der Wählermassen für eigene Ziele zu mobilisieren. Es fällt auf, dass sich die populistische, negativ belastete Zuordnung in der Gegenwartspolitik ausschließlich auf das „rechte“, also nationallastige Szenarium beschränkt, als Erblast unserer dilettantischen Vergangenheitsbewältigung und ein Beweis mehr für die Einflussnahme des medialen „Mainstreams“ unserer Tage. Die zahlenmäßige Überlegenheit anderer, ebenfalls um die Wählergunst buhlender „Populisten“ anderer Deszendenzen werden sich deshalb einer Affinität mit der ungeliebten populus-Vokabel tunlichst verbitten, wenngleich auch vieles an religiösem Selbstverständnis durchaus „populistische“ Kriterien erfüllt. Man darf sich auch hier eigene Gedanken über die Rolle unserer popular-medialen, freiheitlichen Berichterstattung gönnen, die sich zunehmend mit dem Begriff „Moralimperialismus“ auseinanderzusetzen hat. Immerhin weiß man andernorts durchaus (noch) zu differenzieren. Der aktuelle Wahlsieg der schweizerischen SVP wurde ihrer „rechtskonservativen“ Positionierung zugeschrieben. Es geht also auch anders!

  Da wäre in diesem Zusammenhang noch die Aussagekraft des Buchstaben „C“ der Unionsparteien hierzulande zu hinterfragen. Das Regierungsprogramm für 2013-2017 vermerkt zum Thema Gesundheitspolitik u. a.: Auch in den ländlichen Regionen wollen CDU und CSU eine gut erreichbare Versorgung durch Ärzte und Krankenhäuser sichern.

Ein Beispiel:

  In Gesprächen über Krankenhäuser in Deutschland wird viel vor der Ökonomisierung des Gesundheitswesens und ihren Folgen gewarnt. So viel, dass sich kürzlich der Deutsche Ethikrat in einer öffentlichen Tagung damit beschäftigt hat. Das Thema habe eine große gesellschaftliche Relevanz, hieß es. Schließlich sei jeder Bürger ein potenzieller Patient. Und „wir wollen, dass es auch den Menschen, die sich um uns kümmern, gut geht", so die Vorsitzende des Ethikrates Professor Christiane Woopen. Weiterhin heißt es dort in einer Pressemitteilung:

 

  Sitzen in den Führungsetagen der Kliniken hauptsächlich Sparkommissare, denen das Wohl der Patienten und Mitarbeiter nur am Herzen liegt, wenn es sich auch rechnet? Und wenn ja, was hat dazu geführt, dass Ökonomen in Kliniken immer mehr Einfluss gewinnen?/.../

  Viele Experten sind sich einig, dass Deutschland noch zu viele Krankenhäuser hat. Von den derzeit etwa 2000 Kliniken, könnten noch zwischen 200 und 500 geschlossen werden, ohne dass die flächendeckende Versorgung gefährdet wäre, heißt es.

  Geld, das in diese Kliniken fließt, die sich mehr schlecht als recht über Wasser halten, könnte gut an anderen Stellen eingesetzt werden. Jeder, der sich mit Gesundheitspolitik beschäftigt, kennt diese Probleme./.../Doch welcher Politiker sagt einem Patienten, dass er künftig für eine stationäre Behandlung auch mal in eine andere Stadt fahren muss? Wer sagt ihm, dass ein Gesundheitssystem auf unserem Niveau für den Preis, den wir zurzeit zahlen, nicht dauerhaft zu haben ist? Welcher Ministerpräsident gibt freiwillig den Einfluss auf die Krankenhausplanung ab? Solange man im bisherigen Maß verdrängt und weiterwurschtelt, werden Ärzte, Pflegekräfte und Patienten die Leidtragenden dieser Politik sein. Das Problem ist nicht die Ökonomisierung. Sie ist nur die Folge politischer Entscheidungen. Das Problem ist eher die Angst vor der nächsten Wahl.

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  Es ist schon erstaunlich, was man dem Wahlvolk alles an so genannten „Fortschritten“ im Verantwortungsbereich Politik seitens ihrer Repräsentanten zumutet. Auch dem nichtreligiös geprägten Bürger dürfte schwer zu erklären sein, warum das hehre Ziel eines Regierungsprogramms sich in der Praxis den ökonomischen Regeln des Kosten/Nutzen Prinzips unterzuordnen hat, also nicht subventionierungswürdig sein soll. Andererseits wäre da die nonchalante Pressemitteilung zu verdauen, wonach sich laut einer dpa Mitteilung vom 20.10.2015 der veranschlagte Umzug des Bundesnachrichtendienstes vom bayerischen Pullach nach Berlin von 1,457 auf schlappe 1,9 Mrd EUR entwickelte und sich allenfalls mit beiläufiger Resignation im nächsten Weißbuch des Bundesrechnungshofes wiederfinden wird. Und da wäre auch noch der unsägliche BER...

  Die unbestreitbaren Vorzüge des Kosten/Nutzen Vergleichs und des Konnexitätsprinzips sind mit „christlichen Werten“ unverträglich. Betreibt hier eine „Volkspartei“ Etikettenschwindel? Die kläglichen Versuche, die unkontrollierten Flüchtlingsströme für dieses Land als kompensierende Chance und Glücksfall für die (von wem?) fehlgesteuerte Statik unserer Volksgemeinschaft darzustellen, mag sich zwar mit christlichen Werten rechtferigen lassen, muss sich laut einer dpa Mitteilung vom 20.10.2015 kläglicherweise aber dabei des ökonomischen Feigenblattes bedienen, das ohnehin niemanden überzeugt. Das tut allenfalls wieder einmal die überlieferte, ein halbes Jahrtausend alte Erkenntnis eines Macchiavelli, wonach der Teufel zur Verwirrung der Menschen sich vorzugsweise der Idealisten bedient. Oder auch die Klage der Margarete aus Goethes Faust I:

 

Nach Golde drängt,
Am Golde hängt
Doch alles. Ach wir Armen!

 

  Wer es allerdings „christlicher“ bevorzugt, mag sich mit einem alttestamentarischen Zitat trösten:

 

Was soll dem Toren Geld in der Hand?

Sprüche 17,16

 

  Bedauernswerter Homo oeconomicus.

updated 15. August 2016