Die Kluft

                                                                                                                             Raoul Vidale                

 

  Es war wohl Zufall, das v. Schlegelsche Tageszitat zu einem kommentierten Artikel, das die Kluft zwischen Arm und Reich im Fränkischen Tag vom25. April 2014 zum Thema hat:

 

„Es ist sonderbar, dass der Mensch sich nicht vor sich selbst fürchtet.“

 

   Der mediale Dauerbrenner von der sich ständig vergrößernden Kluft ist trotz seiner gnadenlosen Unumkehrbarkeit noch nicht soweit im öffentlichen Bewusstsein angekommen, um die gebührenden Gegenmaßnahmen endlich auf die Tagesordnung zu befördern.

  Alle betreffend, profitieren Angehörige unterschiedlicher Gesellschaftsschichten auf höchst differenzierte Weise von einem System, das sich nach dem Leitsatz richtet: Wer hat, dem wird gegeben. Das jeder Organisation anhaftende Trägheitsmoment gegenüber Veränderungen, eine sakrosankte Besitzstandswahrung wie das Festhalten an Vorurteilen verhindern erfolgreich den Handlungsbedarf für eine überfällige Korrektur und die Ungerechtigkeiten einer zwiespältigen Verteilungsstruktur auf den Prüfstand zu stellen.

  Der beigefügte Kommentar mit seiner Feststellung, dass ein sozialpolitischer Nachholbedarf nicht erkennbar sei, will sich so wohl nicht als apologetischer Zynismus verstanden wissen. Gewiss, nicht jeder ist gleichermaßen vom Glück bedacht und verfügt über die erforderlichen Instrumente und Voraussetzungen zum Erfolg. Das sei ja nicht weiter zu beklagen, wäre da nicht die unsolidarische Inwertstellung ungleichartiger menschlicher Fähigkeits- und Entwicklungsmöglichkeiten. Eine Zivilisation bedarf all ihrer Komponenten gleichermaßen, um unbeschädigt zu bestehen; sie ist nur so gut, wie ihr schwächstes Glied. Die nachteiligen Folgen einer Überakademisierung kann man bereits in Ländern wie Frankreich erkennen.

  Dabei ist das unaufhaltsame Auseinanderdriften userer Gesellschaft systembedingt und nicht primär abhängig vom Glück oder dem Eifer des Einzelnen. Mit jeder prozentualen Einkommensverbesserung spreizt sich unweigerlich die Kluft. Wer viel hat, bekommt viel, wer wenig hat, bekommt wenig. Dieses sich seit Jahrzehnten stets wiederholende Procedere genießt übergreifende kritiklose Akzeptanz durch alle Schichten. Keine Partei, keine Gewerkschaft und keine der Organisationen, die sich der sozialen Gerechtigkeit präsumtiv verschrieben haben, hält es für angebracht, ihre Stimme dagegen zu erheben. Hier dominiert die Solidarität der Privilegierten.

  Zivilisation samt ihren Komponenten Demokratie, Arbeits- und Gewaltenteilung wie Solidarität ist das Ergebnis eines Verstandesprodukts, das es seinen Mitgliedern erlauben sollte, ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechend gut miteinander auszukommen. Wenn dieses intellektuell konzipierte Gebilde jedoch von emotionell gesteuertem Bauchgefühl beherrscht wird, muss es unweigerlich scheitern, wovon die gesellschafts- und sozialpolitischen Zustände rund um den Globus täglich ein beredtes Beispiel ablegen.

  Eine Lösung scheint mir nur möglich durch radikales Umdenken: Wir haben das Leben nicht vor uns, sondern hinter uns! Eine Provokation ohne Chance. Noch ist der Leidensdruck wohl zu gering.

                                                                                                                                                         05.05.2014