Das große Welttheater

 

 

  Es gibt im Leben hin und wieder Momente, in denen man sich regelrecht davongetragen fühlt. Up and away! Sei es auf den „Flügeln des Gesanges“, der Poesie, der Erotik, des Erfolges, der religiösen oder dionysischen Entrücktheit, wie auch der ab-grundtiefen Trauer. Aber es bleiben eben doch nur Momente, die den Einzelnen im Banne seines Wahns in andere, imaginäre Sphären versetzen, bevor sie ihn mitleidlos wieder in die gefühlte, dröge Realität entlassen. Dem Votum einer mysteriösen Regie ausgeliefert, hebt der arglos und unvorbereitet Enteilende zu seinem exaltierten Höhenflug ab, immer und immer wieder im Laufe seines Erdendaseins. Und wehe, er beginnt, sich darüber Gedanken zu machen!

  Früher oder später wird dem Gehetzten auffallen, dass von dieser Erblast offenbar nicht alle gleicherweise erfasst werden. Warum aber dann diese Ungleichheit? Könnte es sein, dass dem einen oder anderen Betroffenen dieses jetzige Leben zur Bewährung oder Wiedergutmachung für Verfehlungen aus einer vorausgegangenen Existenz auferlegt wurde? Immerhin würde das eine allwissende und allmächtige Vollzugsinstanz voraussetzen. Ablehner einer justiziablen Reinkarnationstheorie müssten sich dann auch mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass die hierfür vorauszusetzende Leidensfähigkeit unter den Delinquenten grundverschieden ausfällt, von einer empathischen Sozialverträglichkeit der unvermeidbaren Auswirkungen einer solchen Wiedergutmachungstheorie im weiteren Umfeld erst gar nicht zu reden. Hier muss ein wie auch immer zu definierendes Gerechtigkeitsempfinden jeden Zweifelnden völlig überfordern.

 

  Egal wie; das Auseinanderdriften einer Gesellschaft innerhalb dieses Kontextes ist daher im Verlauf ihres Vollzugs unver-meidlich. Auch in der Tierwelt sind derartige Unterschiede in den hierarchischen Strukturen zu beobachten. Allerdings sind dort die Rollen bereits naturnah vorherbestimmt oder werden sehr effektiv durch körperliche Potenz und naturhafte Dominanz entschieden. Die Situation unterscheidet sich hauptsächlich darin, dass der Mensch im Stande ist, hierüber nachzudenken. Ein sehr umstrittenes Privileg, mit dem er seit Menschen-gedenken seine liebe Not hatte, ohne jedoch damit substantielle Fortschritte zugunsten seiner Spezies aufweisen zu können.

  An dieser Stelle wird der optimistisch Geneigte Einspruch vermelden. Immerhin haben sich Begriffe wie Menschenrechte, Demokratie, Freiheit, Recht, Gleichheit vor dem Gesetz und andere hehre Ideale in unserem Vokabular festverankert. Und man macht im Gefolge weitgehender Akzeptanz, davon auch - zumindest verbal - reichlichen Gebrauch. Bezeichnenderweise am meisten gerade dort, wo man es mit dem Sinngehalt nicht allzu wörtlich nimmt und immer neue Interpretationsvarianten hinzu bemüht.

  Sie alle leben vom Mitmachen. Ganz einfach. Doch bereits hier zeigen sich klare Grenzen auf. In unserer immer komplexer werdenden Welt sind unvoreingenommene Denkweisen und umfangreiches Wissen, gepaart mit solidarischer Verantwortung und zielorientierter Nachhaltigkeit zum Gedeih ebenso unverzichtbar wie selten. Stattdessen gibt sich sich eine Gemengelage aus populistischem Gutmenschentum, erfolgsorientiertem Karrieredenken, herablassender Überheblichkeit, anmaßendem Dogmatismus, bornierter Extrovertiertheit und rüpelhaftem Zynismus einerseits, wie desinteressierter Ignoranz, intellektueller Überforderung, egozentrischem Narzissmus und resignierender Ohnmacht andererseits ein unheiliges Stelldichein, in dem sich dieses Spiel um den vermeintlichen Weg zur Seligkeit des Erfolgs inszeniert. Dieses Hexengebräu, das seit Jahrtausenden vor sich hinköchelt, ist wohl das Urständigste, das die Menschheit seit ihrem Erwachen auszeichnet. Soll man nun all die großartigen Leistungen von Menschen, die uns durch die Zeiten aus dieser Misere zu befreien versuchen, bewundern oder ob ihrer Erfolglosigkeit bemitleiden? Gute Frage! Der arme Sisyphus wird seinen Fels weiter wälzen, und das soll er auch!

 Es beschleicht den Autor dieser Zeilen das beschämende Gefühl, selbst keine handliche Lösung anbieten zu können. Und eine ungute Ahnung noch dazu, nämlich sich den Ruf eines hoffnungslosen Misanthropen und Schwarzsehers einzuhandeln, was er schon gar nicht verdient zu haben meint. Vielleicht aber sollte man dieses ganze faustische Dilemma aus einer anderen Sicht betrachten. William Somerset Maugham empfahl humorvolle Resignation als die überzeugendste Therapie. Er mag damit Recht haben.

  Es ist alles nur Theater. Das darstellende Ensemble inszeniert sich selbst, lässt einander gewähren, zumindest so lange man einander nicht ins Gehege kommt. All die großen und kleinen Divergenzen um Vergangenheitsbewältigung, Tagespolitik und Zukunftshysterie präsentieren sich als Dramen, Tragödien oder Komödien auf den zugewiesenen Bühnen zu determinierten Spielzeiten mit den verpflichteten Akteuren, inszeniert nach dilettantisch gebastelten Partituren. Kein freigesinntes Ordnungsprinzip, sondern kollektives Versagen lässt den Lauf der Dinge gewähren, solange keine Eigeninteressen beschädigt werden. Für die Masse der Menschen aber der einzig verfügbare Weg, das eigene Leben irgendwie im persönlichen Sinne zu gestalten und - auszuhalten. Und wer möchte ihnen das auch verdenken? Oder wegnehmen? Aber genau das glauben alle Eiferer in eigener Sache tun zu müssen, um dem unkontrollierbaren Lauf der Welt Einhalt gebieten zu können. Die Liste der hierbei Gescheiterten ist lang; sie wächst und wächst. Und kein Ende in Sicht und hält dabei das Ganze seit unvordenklichen Zeiten mehr schlecht als recht am Laufen...

  Und während ich so in heißer Sommernacht bei weit geöffnetem Fenster schlaflos meinen schwirrenden Gedanken freien Lauf lasse, bemüht sich auf offener Straße eine Gruppe bierseliger Zeitgenossen, all den Schlafsuchenden ihr ebenso impulsives wie belangloses Mitteillungsbedürfnis in qualvoller Disharmonie aufzudringen.

  Doch immer wieder geht die Sonne auf…

updated 21. März 2018