Das Phantom

 

Zu der Rubrik „Schicksalstage für Europa“ des FT vom

1. Dezember 2016

 

 

 

  Das Unbehagen im Wählervolk - und nicht nur bei den „ungebildeten Alten“ über die wachsende Radikalisierung unserer „postfaktischen“ Gesellschaft, lässt sich in seiner Dimension allenfalls mit der Realitätsentfremdung unserer digitalisierten Spaßgesellschaft vergleichen. Dazu musste einiges geschehen, um die vorab abschätzig bewerteten „Ängstlichen und sich abgehängt Fühlenden“ nun in einer neuen Authentizität wiederzuentdecken.

Doch wie konnte es überhaupt soweit kommen?

 

   Uns, von Zukunftsängsten verunsicherten Zaungästen, liefern zur Rat- und Hilflosigkeit unserer Entscheidungsträger die marktgängigen Medien ihre Deutungsversuche frei nach „Art des Hauses“. Ein hintergründiges Phantom erweist sich dabei als unersetzlicher Watschenmann des publizierenden Genres:

Der Populist. Ihm entgegen steht als weißer Ritter der Streiter für glückverheißende Globalisierung: der um seinen Wohlstandsverlust bangende, fortschrittlich Etablierte oder Unpopulist. Droht diesem nun der gefürchtete Gunstentzug des Wahlvolks als Folge von Brexit und Trump-Wahl, wo nun alles möglich scheint?

Die „Schockstarre“ der Etablierten offenbarte dramatisch, wie weit sich die Wachstums- und Verheißugspolitik der Eliten und ihrer medialen Claqueure von der Realität entfernt haben, wo sich nun, infolge der verbum-melten Entwicklungsprozesse, die dämonisierten Bedenken Thilo Sarrazins als bloße Wegbeschreibungen einer erodierenden EU herausstellen.

    Es bedurfte einer Studie der Bertelsmann-Stiftung, die Gefahren nicht zu Ende gedachter Heilsstrategien nunmehr gar als „Hoffnungsschimmer“ zu erkennen: nicht als Anlass zur Hinterfragung einer scheiternden Politik, sondern ob der erstaunlichen Erkenntnis, dass Ängste leichter aufzulösen seien, als „festzementierte Werte“. Glaubte man in jenen Himmelshöhen tatsächlich, dass die Chancen für eine gute Zukunft mit einem deregulierten Arbeitsmarkt, Abbau sozialer Anrechte und nationalem Idenditätsverlust herstell- und vermittelbar seien?

    Bereits in der Antike wusste man, dass es keinen Sinn macht, Vorhaben zu betreiben, solange man sich nicht über das Grundsätzliche geeinigt hat. So plädiert der Philosoph Jürgen Habermas - gegen den Vorwurf der „Spaltung“ - für ein funktionierendes „Kerneuropa“, das die in allen Mitgliedstaaten polarisierten Bevölke-rungen vom Sinn des Projekts überzeugen könne.

   Es eröffnet sich eine schizophrene Konstellation, die einerseits irrationale Ängste vor einer Selbstzerfleischung der EU durch einen nationalen Hurrapatriotismus schürt, andererseits die immanente Gefahr bürgerkriegsähnlicher Zustände als Rechtfertigung missverstandener Weltoffenheit billigend in Kauf nimmt.

  Wir erleben Volksvertreter, welche Missstände therapieren, die sie nicht verstehen, mit Mitteln, deren Folgen sie nicht überblicken, und das alles für ein Volk, das sie offenbar nicht kennen. Die öffentlich zelebrierten Fehlversuche, unhaltbare Zustände mit denselben Mitteln zu korrigieren, die diese erst zum Problem machten, eröffnen keine Perspektiven zu deren Überwindung, zeitigen aber ein weitverbreitetes Unvermögen von Politkern, subjektives Empfinden von objektiver Tatsächlichkeit zu unterscheiden. Sie läuten das Totenglöckchen für eine schwindende Hoffnung, mit neuen Gedanken Lösungsmöglichkeiten in unseren automatischen Gehirnen zu finden.

 8. Dezember 2016