Herbst

Im Herbst
Im Herbst

 

 

  War das schon immer so? Ich meine dieses grandiose Schauspiel, das die Natur in den hinter uns liegenden Wochen draußen in den Wäldern in diesem Jahr 2012 inszenierte. Niemand, es sei denn, er sei mit all seinen Sinnen völlig abgestumpft, vermochte sich dem unverhofften Zauber dieser Kulisse zu entziehen. Dabei ist es durchaus nichts neues, wenn sich, alljährlich mit der Neigung der Erdachse zur Ekliptik, in diesen Breiten die helle, warme Jahreszeit verabschiedet und sich die Natur ins Winterquartier zurückzieht. Doch in diesem Jahr erschien alles etwas anders. Oder lag es doch nur an der Wahrnehmung des Beobachters, der, wieder um ein Jahr betagter, seine Eindrücke mit fortschreitendem Alterungsprozess so viel bewusster in sich aufnimmt und bewertet? Wie dem auch sei.

 Die ersten Ankündigungen des bevorstehenden Saison-wechsels ließen jedenfalls Vorfreude auf die zu erwartende Farbenexplosion in Wald und Flur aufkommen. Würde die wonnetrunkene Frist sich schnell vollziehen, bis der Wind in geheimer Klage seufzend das letzte Grün zu küssen wagt? Bis alle Farben sich im milchigen Gedünst feuchtkalter Nebel auflösen und das herzlose Gekrächz der Krähen an all die Gedenk- und Trauertage gemahnt? Doch er ließ sich Zeit, der Herbst. Dem erwartungsvollen Beschauer bot er Woche für Woche ein kontinuierliches, sich ständig selbst überbietendes Feuerwerk der Farbkombinationen. Angefangen mit den zartgelben Farbtupfern inmitten der unzähligen Grünvarianten, über rötliche Einsprengsel im immer farbenprächtiger werdenden Kulissenzauber, bis es sich, dem Ende entgegen, zu immer raffi-nierteren, immer flammenderen Nuancen steigerte, gerade wie eine Paradenummer ausgefeilt inszenierter Pyrotechnik, die sich zum Finale hin in immer rascherer Abfolge dem Höhepunkt nähert und in einer Kaskade an Farben und Leuchtkraft mit einem Knalleffekt einen orgiastischen Schlusspunkt setzt. Auch die mit ungewohnter Standhaftigkeit mitwirkende Sonne gab ihr Bestes. Ein strahlend blaues Himmelsgewölbe breitete sich Tag für Tag über die Szenerie, mitunter garniert mit dahin-ziehenden, ständig variierenden, skurrilen Wolkengebilden, die in ihrem Formenreichtum der erdgebundenen Bühne in nichts nachstehen wollten. Es war wie eine gigantische Feier und zugleich auch die Götterdämmerung eines Sommertheaters, das sich in einem alles verschlingenden Weltenbrand auf grandiose Weise noch einmal selbst inszenierte, bevor sich das Leichentuch von Väterchen Frost flächendeckend über die Landschaft legen würde. Noch im Verglühen beeindruckend, präsentierte sich das sanft hernieder schwebende Blattwerk in allen erdenklichen Variationen mit rostbrauner Dominanz, bis sich die entlaubten Gehölze gleich abgebranntem Reisig grau und dunkel erdfarben in den milchigen Dunst reckten. Nur die längst gestorbenen, dahinmodernden Baumriesen ragten nun, schon lange ihres ausladenden Astwerks beraubt, umso trutziger in die Höhe oder räkelten sich in ihrem dunkelgrünen Moosgewand inmitten des frisch bereiteten Laubbettes liegend, das nun auch die Wege und Pfade im Hain wie mit einem buntgemusterten Teppichmosaik überdeckte. Dem sinnenden Spaziergänger, eingedenk Rilkescher Herbstmeditationen über loszulassende Winde und dem Verfassen langer Briefe, eröffnet sich nun ein weites Spektrum zu beackernder Gemütszustände, mit deren Aufbereitung er den Abschied eines gewesenen Sommers mit einem Glase Wein oder dem Eintauchen in die bevorstehende Verpuppung im heimeligem Kachelofenambiente zelebrieren darf. Lebensfülle pur! Und er begreift sich zufrieden als mitwirkenden Statisten in einer gesetzmäßig voranschreitenden Unabänderlichkeit, als Teil eines großen Ganzen.

  Wie viel Dankbarkeit macht sich doch im Herzen breit, wenn mit einer herüberwehenden Ahnung von Tod und Vergänglichkeit auch die Erkenntnis einhergeht, dass es nur ein ebenso trügerischer wie vorübergehender Sinneseindruck ist, sobald Verzweiflung und Trauer als subjektives Befindlichkeitsmoment sich unseres Gemütszustands bemächtigen wollen. Auch das geht vorüber.

  Wie viel lohnender dagegen die Genugtuung, die Erneuerung der Natur in immerwährendem Wechsel selbst mitzugestalten. Wie formulierte es doch der große Goethe so trefflich:

 

                          …Und solang du dies nicht hast, dieses Stirb und Werde,

                       bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde!

updated 4. Oktober 2016