Anfrage

                                                                                                                  Koteynikov Roman Roland

 

   Immer wieder wundere ich mich darüber, dass die „eigentlichste“ aller Fragen irgendwo im Verborgenen zwar alles unterschwellig begleitet, aber so gut wie nie in der ihr gebührenden Relevanz öffentlich thematisiert wird. Immer sind es die Symptome, die im Dunstkreis ihrer Protagonisten aus Politik, Ökonomie und religös orientierten Überzeugungsgemeinschaften die aus unvermeidlichen Konfrontationen generierten Übel zwar geräuschvoll, aber kontraproduktiv missbilligt, Lösungsansätze in ihrer Folgerichtigkeit jedoch nur selten zu Ende gedacht werden. Ein Geist, der stets verneint, auf verschlungenen Pfaden zwischen Wahrheit und Weltanschauung,

  Woher all der Unmut? Wie kann es sein, dass sich der sprunghaft potenzierende Wissensstand nicht im Sinne eines authentischen Fortschritts zu umfassend besseren Lebensbedingungen in unserer doch so schönen Welt führt, sondern oft zu dessen erlebbarem Gegenteil? Immer neu entfachte „humanitäre Katastrophen“, zunehmende Infragestellungen traditioneller Zivilisationsstrukturen bis hin zur gewollten, ersatzlosen Auslöschung, schwindendes Vertrauen an praktizierende Kompetenz und demokratische Legitimation unserer Staats- und Institutionsmechanismen, an das Mögliche kulturübergreifender Verträglichkeiten, an vernunftbegründete Empathie und soziale Solidarität: All dies kennzeichnet drastisch einen unheilvollen Entwicklungsverlauf.

    Warum auch dieser scheinbar allgegenwärtige Eskapismus in eine verschwommene Gefühligkeit, in eine krankhafte Sozialpsychologie, die sich die ausgleichende Balance in einer Populärkultur geschwätziger Belanglosigkeit, in überbordendem Konsum- und ungezügeltem Kommunikationsverhalten, der Flucht in bewusstseinsverändernde Suchtmittel und sonstige psychoüber-frachtete Ungeheuerlichkeiten bis hin zum religiösen Wahn zu finden sucht, um ein einmaliges, unersetzbares Leben überhaupt noch erträglich zu finden? Oder ist der Grund dieses Versagens in unserer Feigheit zu suchen, sich selbst und den „Menschen an sich“ so wahrzunehmen, wie er nun einmal ist, anstatt so, wie man ihn gerne sehen möchte? Aber wie wünscht man sich den?

   Der bisherige Verlauf der Menschheitsgeschichte bietet dazu kein zuverlässiges, erfolgreiches Verfahren; alle bisherigen Experimente müssen - gemessen am Erfolg - als lebensfremde Utopien für gescheitert gelten. Dennoch bietet der demokratische Ansatz zu einer nachhaltigen Lösung des Problems noch die hoffnungsvollste Option, wenngleich auch die beschwerlichste. Die diesem Anstandsprinzip zugrundeliegende Voraussetzung der Gleichheit vor geltendem Recht samt seinen Pflichten und Verantwortlichkeiten verspricht viel, lässt in seiner Konsequenz aber die Einzigartigkeit des Individuums in all seinen Facetten weitgehend außer Betracht. Unterschiedliche, natürliche Begabungen physischer und intellektueller Art, setzen sich unterschiedlich mit den jeweiligen Lebensbedingungen auseinander: Der tägliche Kampf ums Überleben begünstigt die Überlegenheit des Stärkeren. Die Natur kennt weder Moral, Ethik noch Mitleid. Diese, dem Menschen vorbehaltene evolutionäre Errungenschaft einer einsichtsfähigen Intelligenz, musste zwangsläufig zur Hervorbringung sozialverträglicher Regelungen führen, um eine Zivilgesellschaft überhaupt zu ermöglichen. Nun sind die Regelwerke, gleich welcher Art, jeweils ein Abbild des jeweiligen Zeitgeistes und der Willfährigkeit ihrer darin befangenen Gestaltungskräfte. Das wird auch unterschwellig so wahrgenommen und beflügelt andererseits ein sehnsuchtsvolles Hinzugezogensein zum Unanzweifelbaren, Absoluten, das keiner Kritik bedarf: Moral statt Realität.

  Doch welche Rolle spielt dabei „Kritik“ in diesem Konflikt? Eine bedeutende zweifellos. Unverzichtbares Rüstzeug oder wohlfeiler Selbstschutz? Im Sog des populistischen Mainstreams haben die Massenmedien das Werkzeug der Kritik zu einer autoritativen Waffe entwickelt, die in ihrem gefühligen Selbstverständnis weder auf politische Erfahrung, noch auf institutionelle Instanzen zu rationalen Entscheidungsfindungen Rücksicht nehmen muss. Und so geschieht es denn: Moralische Aspekte, pragmatischem Handeln von Natur aus fremd, generieren ihrerseits imaginäre Energien und dank faktischer Undurchführbarkeit dauerhafte Krisen. Die der Not gehorchende Zahnlosigkeit der Politik fördert die Lethargie des zum Papiertiger herabgewürdigten „Souveräns“. Kritik ohne abwägende Vernunft, die ihrem Unvermögen mit moralinsaurem Phrasendrusch noch die Sporen ansetzt, verdächtigt sich ob ihrer Halsstarrigkeit zwar der puren Lust am Krawall, kann sich damit aber den Erfolg an die populistische Fahne heften. Meistens.

  Für eine demokratisch orientierte Gesellschaftsordnung sind die Folgen ebenso unübersehbar wie gefährlich. Anstelle des komplexen Einigungsprozesses durch mehrheitlichen Konsens, erlaubt es den Verursachern der Krise, sich nur einem eingeschränkten öffentlichen Diskurs stellen zu müssen, der sich lediglich an den gängigen Argumenten der Meinungsmärkte zu orientieren braucht.

  Ein schwieriger, mühevoller Gang erwartet alle, die sich um eine lebenswerte Zukunft sorgen. Auf dem Weg zu einer abwägenden Positionierung zwischen pragmatischem Handeln und blindem Aktionismus, zwischen einvernehmlichen Zielvorgaben und maximalen Forderungen, zwischen verknüpfender Prüfung und beharrendem Teilwissen, zwischen dem Anspruch auf tatsächliche Verbesserung und korrupter Vorteilnahme werden sie sich verschleißen unter dem Joch unausgewogener Verhältnismäßigkeiten, der Relativierung einzuhaltender Grenzen und Verantwortlichkeiten und - ja, dem verlorenen Mut zur Korrektur. Eine riesige Herausforderung für eine sich in diffusem Palaver verirrrende Gesellschaft, die kaum noch dazu imstande ist, die Folgen ihrer Geschäftsethik zu überschauen. Ihr gesellschaftserelevanter Zustand lässt sich daran ermessen, wenn sachbezogener Kritik nur dann noch Erfolg zuteil werden kann, wenn sie von den Eliten wahrgenommen und gefördert wird. Wo nicht, wäre es an der Zeit, sich Gedanken um die Beschaffenheit dieser Eliten zu machen.

updated 13. Oktober 2016