Lost in Evaluation

 

 

 

 Es gibt kaum eine erfolgreichere Methode, sich effektiv ins gesellschaftliche Abseits zu manövrieren, als sich mit religiös oder ideologisch fundierten Themen öffentlich auseinanderzusetzen. Dabei ist es einem doch nahezu unmöglich, eben das nicht  zu tun. Wer möchte schon seine Erkenntnisse und Befürchtungen im Papierkorb introvertierter Einsamkeit versenken? Kaum eine mediale Verlautbarung über Zustände und Begebenheiten auf unserem schönen Planeten kommt ohne den Hinweis auf Hintergründe aus, die sich im Nebel religiöser oder ideologischer Mystik verlieren. Nicht gerade selten sind die Unterschiede zwischen gläubiger Gottesfurcht und gesellschaftspolitischem Usus fast aufgehoben, sind eingefahrene Gewohnheiten und traditionelle Verfahrensweisen vom Virus hartleibiger Zwangsläufigkeiten und religionsverseuchter Penetranz infiziert. Dabei ist in diesen Zusammen-hängen einerlei, ob es sich dabei um Themen im lokalen Bereich oder solchen von globaler Tragweite handelt.

 

  Die Verquickung von Irrationalem mit der scheinbar doch eher pragmatisch ausgerichteten Politik – also der „Kunst des Möglichen“ - mochte schon immer ein Problem gewesen sein, sind doch Religion und Ideologie seit jeher realer Bestandteil der menschlichen Erfahrungswelt. Und es ist diese gelebte Wirklichkeit, die den kritischen Beobachter einerseits zur Stellungnahme herausfordert, ihm jedoch gleichzeitig auch einen zwanghaften Maulkorb aufnötigt, wenn er nicht gewillt ist, sich mit einem entrüsteten Publikum anzulegen, das mit der Freiheit der Gedanken selbst nicht allzuviel anzufangen weiß. Kein Zweifel: Sich bei kontrovers geführten Themen der öffentlichen Kritik auszusetzen, erfordert Mut, abwägende Nachdenklichkeit und ein gerüttelt Maß an Leidensfähigkeit.

 

  Die Auseinandersetzung mit intelligenten, provozierenden Gedanken ist fast immer mit der quälenden Überlegung verbunden, ob denn nicht alles bereits gesagt wurde. Und das vielleicht besser, umfassender und stringenter, als man das je selbst vermöchte. Ist es also missionarischer Eifer, persönliche Eitelkeit oder die reine Neugier auf die persönlich erreichbare Qualität des eigenen geistigen Endprodukts, dass man es einfach nicht lassen kann, der gesammelten Weisheit dieser Welt überflüssigerweise noch eine eigene Version zuzumuten? Und das, ohne die geringste Hoffnung, jemals - verdienterweise natürlich - auch öffentlich wahr-genommen zu werden? Erinnerungen an Karl Valentin werden wach, der die gleiche Angelegenheit mit der humorvollen Bemerkung relativierte, dass zwar tatsächlich schon alles gesagt sei, aber halt noch nicht von Jedem. Kann man also gar von einer Art Raserei reden, wenn ein Mensch, von geheimnisvollen inneren Mächten getrieben, seine Position in der Welt abstecken muss, oder ist es ein irgendwann entdecktes, ungestilltes Herzensbedürfnis, zu sich selbst zu finden und zu erkennen, wer man ist und wohin „die Reise“ geht? Ein seit Jahren von den Tagesmedien losgetretener „Mainstream“ der Verhaltensethik in der Diktion moralisierender Glaubenswelten hat sich unbemerkt und lähmend auf alle Gesellschaftsbereiche verbreitet. Ein Beispiel:

Lebendige Steine gegen dumpfen Hass

 

(Fränkischer Tag vom 29./30. August 2015, S. 14)

 

  Eingehend auf die aktuelle Flüchtlingssituation erläutert unter der abenteuerlichen „Schlag“-Zeile in dürren Worten die Patin einer Aktion, wie man den Zugang zum Bamberger „Zelt der Religionen“ mit gesponserten Pflastersteinen aufwerten könne:

  „...Zwar sei die Stimmung in Bamberg „eher positiv“. Doch diese dürfe nicht umschlagen „in dumpfen Hass auf Andersartigkeit“, mahnte die Katholikin.

  „Lebendige Steine“ lassen sich noch als romantisierende Poesie akzeptieren. Aber „dumpfer Hass“?

Was wäre die Veranlassung für ein „Umschlagen“ und ließe der sich, wenn es ihn denn so gäbe, durch eine Art Exorzismus hinwegbeschwören? Sind unsere öffentlichen Plätze nicht mit Mahn- und Denkmälern für verirrte Mainstream-Auswüchse reichlich ausgeschmückt, unser Kalender nicht mit Gedenktagen üppig besetzt?

Dass man die Darstellung eines Problems auch so ganz anders an sein Publikum bringen kann, zeigt eine Buchbesprechung in der gleichen Ausgabe.

 

Gegen den Erlebnis-Burn-Out

 

(S. 1, Fränkischer Sonntag)

 

  Der emeritierte Bamberger Professor für Kulturgeographie Werner Bätzing beschäftigt sich seit fast 40 jahren mit den Problemen und Perspektiven des Alpenraums.

 

  „Unberührt war das Land noch nie. Nicht erst die moderne Gesellschaft hat diesen Raum verändert, sondern bereits die Alteingesessenen griffen hier ökologisch ein, um sich einen Lebensraum zu schaffen. Mehr noch: Handwerk, Gewerbe und Dienstleistungen/.../spielten schon immer eine wichtige Rolle. Von bloßer Idylle also keine Spur.“

  Bätzing sieht als Hauptproblem das Verschwinden der vielfältig-kleinräumigen Kulturlandschaften - sowohl durch Verwilderung, aber auch durch Verstädterung und Zersiedelung. Laut Bätzing zeigen sich am Beispiel der Alpen nur die Probleme unserer globalisierten Welt auf eine besonders deutliche Weise. „Das betrifft Franken genauso...“

  Fazit: Nicht Geld sei der Schlüsselfaktor für eine Zukunftsperspektive, sondern die kulturelle Identität. „Viele Menschen sind es heuer gewohnt, Geld auszugeben und Ansprüche zu stellen“, sagt Bätzing. Anstelle von Verantwortung werde etwas gekauft. Die Leute engagierten sich nicht mehr und zögen sich auf ihren privaten Konsum zurück. „Wenn alle Menschen das machen, geht die Gesellschaft den Bach runter“ mahnt Bätzing. „Ein Dorf muss Verantwortung für sich selbst übernehmen. Die Leute müssen selbst Strukturen aufbauen und dann ausbauen.“

 

  Wer sich die Mühe macht, über die Ursachen im Allgemeinen und die daraus entstandenen Migrationsprozesse im Besonderen nachzuforschen, wird nicht um die Erkenntnis herumkommen, in der Bewältigung der Krisen keine nationale, sondern eine Menschheitsaufgabe zu sehen. Einhergehen müsste dabei auch das Signal an die Steuerungsmechanismen der Politik, das Verständnis und die Einsatzbereitschaft der Bürgergesellschaft in den Regionen nicht ohne Not zu überstrapazieren. Es ist wohlfeil geworden, die innewohnende Abneigug eines großen Teils der Bevölkerung gegen ständige Konfrontationen mit den dunkelsten Kapiteln unserer Geschichte als potenzielles Risiko für einen Rückfall in ein reaktiomäres Nationalgefühl zu interpretieren, wie es sich zweckdienlich in Angst einflößenden Aufmärschen so einprägsam anbietet.

  Das Gesamtbild vervollständigt ein selbstgefälliges „Komitee der Anständigen“, das sich ebenso auffallend wie herablassend bemüht, auch den besonnensten Mahner in den Gulag der Verruchtheit abzudrängen. So bleibt denn auch die Verbannung korrumpierter Machtpolitiker und ihrer Geldgeber aus den Wirtschafts- und Meinungsimperien ein eklatantes Säumnis dieser weltumfassenden Misere und wird es wohl auch bleiben.

  „Wehret den Anfängen“ lautet ein Zitat aus der Antike, an das ich mich noch aus meiner Schulzeit erinnere, was aber in den seltensten Fällen in diesem Sinne beherzigt wird. Doch der alternde Geist, durch seine Erfahrungen mit der menschlichen Wesensart gewarnt, rennt mit seinen Träumereien weiter an gegen eine Wand der Lethargie und verzehrt sich, in aller Bescheidenheit, mit der bittersüßen Erwartung seiner Verwirklichung... 

  Es bleibt diese eine, unverrückbare Grundwahrheit: Um sich selbst in „letzter Konsequenz“ zu verstehen, bedarf es einer höheren Intelligenz als der eigenen. Spätestens mit dieser (bio)logisch fundierten Erkenntnis verliert sich denn auch das vermessene Experiment, sein Selbst in vollendeter Übereinstimmung mit der Natur gänzlich und unanfechtbar in ihr wiederfinden zu können, in einer immerwährenden Odyssee! Trotzdem:

Auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind, befindet sich unser unterschwelliges Ego ebenso unverdrossen wie unentwegt auf der Suche nach dem Kleinsten wie dem Größten, gefangen in jenem faustischen Versuchsballon mit dem Begehr, sich im immer gigantischer aufblähenden Kosmos selbst zu verorten. Man kann - je nach Ermessen - darin sowohl Größenwahn, aber auch durchaus ein Indiz für wahre menschliche Größe wahrnehmen. Prometheus lebt!

  Lange schon hat uns die Wissenschaft von der Vorstellung befreit – oder besser erlöst – in unserer vermeintlichen Einzigartigkeit das Maß aller Dinge sein zu sollen. Statt-dessen finden wir uns heute reduziert auf ein zwar unbedeutendes, aber dennoch selbstwahrnehmendes Follikel in einem Universum, das uns mit immer neuen Ausweitungen konfrontiert. Dabei ist dies keineswegs ein in der Sache fortschreitender motorischer Prozess, sondern erklärt sich einzig mit unserer wachsenden Kenntnis der Dinge. Haben wir irgendwann dann endlich das letzte Geheimnis entdeckt, das alles am Laufen und zusammenhält? Ist nun das Higgs-Boson wirklich der kleinste Baustein oder doch nur ein weiteres Fragment? Die Frage mag in ihrer Wertigkeit sinnlos erscheinen und sie ist es wohl auch, wenn man sich ihr aus den Niederungen unseres Umgangs miteinander nähert.

  Politik: Was ist das eigentlich? Der Begriff entstammt dem Griechischen und stand ursprünglich für die

„Lehre vom Staat“. In unserer Zeit beschränkt sich die Politik auf die praktische Einwirkung auf den Staat als Volksgemeinschaft in all seinen Fachbereichen. Sie befasst sich in ihrem wissenschaftlich-theoretischen Verständnis mit den Zwecken und Aufgaben des Staates sowie den Mitteln zu deren Verwirklichung.

Der frühere Anspruch der Politik, der die gesamte Staatswissenschaft beinhaltete, erschöpft sich heutzutage im Wesentlichen auf Zweckmäßigkeit und Umsetzbarkeit kollektiver Vorstellungen.

  Hierbei wäre zu unterscheiden zwischen Parteipolitik und „Staatskunst“; die eine fördert die Interessen von Parteien im Rahmen selbstverordneter Glaubensgewissheiten, während die andere das Wohl des großen Ganzen im Auge behält. Keine lehr- oder lernbare Wissenschaft im eigentlichen Sinn, setzt ihre erfolgreiche Besorgung eher Fähigkeiten auf affektivem Terrain voraus, sodass sie eher dem Bereich der Kunst zuzuordnen ist. Eine, zugegebenermaßen etwas naive Erklärung des sich uns so seit Bismarck darstellenden Wesens der Politik. Sie betreibt ihr Handwerk mithilfe von Anschauungsweisen, gezimmert aus den verschiedensten Definitionsansätzen und divergierenden kulturellen Perspektiven, alles miteinander angesiedelt in einer unübersehbaren Vielzahl institutionell geprägter Strukturen.

  Also doch Wissenschaft? Die tägliche Praxis belehrt uns eines anderen. Nicht nur darin, dass sich Parteien in ihren Zielvorstellungen immer ähnlicher werden. Unser heutiges Erkenntnisvermögen über „die“ Politik erschöpft sich weit-gehend als ein Wettstreit der Prinzipienreiter und dürftig kaschierte Betreibung von Interessen. Social Bots und Big Data signalisieren eine weitere Stufe der Entmündigung des Bürgers, der, einst als Souverän in eine bessere Welt ausgezogen, sich nun kläglich dort als Bedarfsträger wieder-findet. Bestürzender als alle Grausamkeiten einer neuen Form des Totalitarismus zeichnet sich der Angriff auf das Konzept der objektiven Wahrheit als neuer Alptraum im Hintergrund ab, in dem sich das Wohl des großen Ganzen in der Intensität von Abklärungen und Interpretationen verliert. Die Wiederwahl populistisch vereinnahmter Protagonisten und der Erhalt des status quo als Minimalziel bestimmen das Procedere. Das Ergebnis ist ebenso verheerend wie diese Erkenntnis alt: eine Tragödie.

 

  Man bewundere die menschliche Gesellschaft so viel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein,

dass sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen.

 

 Das Zitat von Jean Jacques Rousseau (1712-1778) verdeutlicht beispielhaft die Lage, wie sie im Ringen um die Bewältigung derzeitiger Krisensituationen unsere Gesell-schaft zu vergiften droht. Eine unübersehbare Flut von „Fakten“, ja auch solcher der „alternativen“ Art, hat dazu beigetragen, dass selbst „Experten“ zugeben, den Ausgang ihrer Machenschaften nicht mehr einschätzen zu können. Die Häufung von Expertisen dient demnach eher der Vernebelung als der Erleuchtung, was einigen Wenigen zum Vorteil gereicht und - oft genug - jede Verhältnismäßigkeit vermissen lässt.

  Die bereits weit fortgeschrittene Eigendynamik dieser Höllenfahrt ist unumkehrbar geworden; eine rettende Weitsicht mit intelligenter Steuerung nirgendwo zu entdecken. Im Ringen um die aktuelle Finanz- und Schuldenkrise werden als finale Konsequenz Mechanismen geschaffen, die die klassische Gewaltenteilung aushebeln und die Demokratie am Ende beerdigen. Panikmache? Ruf einer verspäteten Kassandra? Nein, leidvolle Erfahrungen der Menschheitsgeschichte! Arthur Schopenhauer (1788-1860) zum gleichen Thema :

 

  Mit der Vermehrung der Tatsachen hat die der Einsicht keineswegs Schritt gehalten, vielmehr hinkt diese erbärmlich hinterdrein. Und dies ist sehr natürlich, denn die Erfahrung, zumal durch Anhäufung und Komplikation der Bedingungen, zu vermehren, ist jeder tauglich; sie auszulegen Wenige und Seltene.

 

  Wenngleich einerseits diese Erkenntnis dem unvoreingenommenen Verstand einleuchtet, muss die praktische Nutzanwendung unkonventioneller und noch unerprobter Lösungsansätze für unsere Probleme in der Praxis als Utopie angesehen werden. Sie sind in unserer Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt nicht mehrheitsfähig. Auch in der Vergangenheit war eine wertneutrale Inventarisierung überkommener und unbrauchbar gewordener Strukturen - ebenso wie eine zukunftsorientierte Konsequenz - immer erst nach der Götterdämmerung des totalen Scheiterns möglich.

updated 2. Februar 2017