An die Politik

Alexandra Khitrova

 

   Die Tagespolitik, aber auch die auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Gestaltung der Gesellschaft in unserer Republik bietet mit zunehmender Tendenz ein desolates Schauspiel. Wenn die Kommentare in den Medien sich zunehmend in Häme üben, was vorzeiten den konservativ veranlagten Konsumenten dieser Äußerungen vielleicht zu Unmutsbezeugungen hinreißen mochte, vertraute er doch der Weisheit „seiner“ Partei, so ist diesem inzwischen längst das Lachen vergangen. Der „Wutbürger“ tritt ins Rampenlicht des Tagesgeschehens.

   Vom „Steuerpoker ohne Ende“ kündet die Tagespresse, und davon, dass unter den Hauptdarstellern der Dauergipfelnden allenfalls der Gipfel der Erschöpfung erreicht sei. Was über angeblich erzielte Erfolge offiziell verlautbart wird, legt den Schluss nahe, dass man in den Entscheidungsgremien nicht mehr zu wissen scheint, was hinten und vorne ist. (Fränkischer Tag vom 08.11.2011).

   Die uns vornehmlich plagende Systemkrise, nämlich die schleichende, aber anscheinend unaufhaltsame Umverteilung des Volksvermögens von „unten“ nach „oben“ bleibt bei allen Lösungsbemühungen außen vor. Im Gegenteil. Dem Prinzip „wer hat, dem wird gegeben“ wird unverholen und unvermindert weiter gehuldigt.

   Thema Steuersenkung: Wer über 9.000 € Jahreseinkommen verfügt, erhält ab 2012 17 €, ab 2014 54 € Entlastung per anno (brutto). Was davon nach steigenden Pflegebeiträgen, höheren Aufwendungen für Energie, Wohnung usw. samt Inflationsrate übrig bleibt, dürfte kaum noch für einen Cappuccino reichen. Wer hingegen über 56.000 € bis zu 290.000 € verfügen darf, erhält 116 bzw. 364 € obendrauf. Toll! Dass man noch die Chuzpe hat, die Verbesserungen bei der Pflege, die der Versicherungsnehmer ja selbst zu finanzieren hat, noch der Öffentlichkeit als Wohltat anzudienen, grenzt an Zynismus.

   Im Klartext: Wir haben ein Gerechtigkeitsproblem. Die Spatzen pfeifen es bereits von den Dächern, dass die Armut in weiten Bevölkerungsschichten beständig wächst, ebenso wie die Zahl und die Konten der Milliardäre und Millionäre, die ihr Geld längst nicht mehr persönlich verkonsumieren können und es möglichst noch dem Zugriff des Fiskus vorenthalten. Es ist ein Armutszeugnis für unser Land, dass Menschen nach einem abgeleisteten vollen Arbeitsleben und hingebungsvoller Fürsorge für ihre Kinder und Pflegebedürftige keine ausreichende Alterssicherung erhalten, ohne dass sie als Bittsteller sich den Behörden offenbaren müssen. Holland beweist, dass es auch anders geht - ohne zusätzliche Kosten!

   Mehr noch. Rentenanpassungen, Lohnerhöhungen ebenso wie die der Beamtenpensionen werden stets prozentual zum vorhandenen Einkommen erhöht: Wer wenig hat, bekommt auch wenig, je mehr einer hat, desto mehr bekommt er. Geld, das er nicht einmal selbst verdient hat. So öffnet sich denn die soziale Schere immer weiter, absichtsvoll und unauf-haltsam, an dessen Ende soziale Unruhen und gesellschaftliche Verwerfungen letztendlich auch die Demokratie in Gefahr bringen werden. Unweigerlich.

   Wo aber ist die Partei, wo der Politiker, wo die Politikerin, die hier zusammen ihre Stimme für mehr Gerechtigkeit erheben? Dabei ist das Problem keineswegs neu. Der hierzulande (und nicht nur hier) praktizierte Politikbetrieb fördert im Sozialbereich nicht das Gemeinwesen, sondern eine kleine privilegierte Schicht, die dessen Richtlinien zu steuern in der Lage ist. Durch Einfluss, durch Geld, durch Lobbyismus und Korruption. Und diese Erkenntnis entstammt nicht verstaubten Klassenkampfideologien aus dem Mülleimer der Geschichte. Sie konfrontiert den Bürger tagtäglich neu – in aller Öffentlichkeit.

   Wo bleiben die Maßnahmen zur Umlaufsicherung des Geldflusses, die Einführung eines Grundeinkommens ohne Vorbedingung, wo die grundlegende Steuerreform, die nicht den ausbeutet, der viel arbeitet sondern den, der viel verbraucht? Warum ist es nicht möglich, die „kalte Progression“ kostenneutral zu entschärfen, indem man die Steuersätze der höheren Einkommen zugunsten der unteren Einkommensgruppen umschichtet, ganz ohne neue Schulden? Warum kann man nicht Einkommenserhöhungen in einheitlich pauschalen Beträgen abgelten? Das wäre ein Schritt in Richtung mehr Gerechtigkeit, nicht die unausrottbare wie ungerechte prozentuale Minierhöhung, die weder dem Kleinrentner noch dem Staatshaushalt etwas nützt, allenfalls dem Oberregierungsrat ein paar zusätzliche freie Restaurantbesuche beschert. Warum nicht? Etwa weil eine Krähe der anderen kein Auge aushackt? Weil niemand freiwillig an dem Ast sägen möchte, auf dem er selbst sitzt? Böse Gedanken.

  Aber gerade das tut der Staat: sich den Ast absägen, der ihn trägt. Auch er gehört zu den Verlierern eines Systems, dass ihm immer größere Geldnöte, dafür einigen Wenigen proportional immer größeren Reichtum verschafft.

   Ob Finanzkrise oder Strukturkrise, Schuldenkrise, Bankenkrise, Gerechtig-keitskrise oder Sinnkrise: Albert Einstein sagte bereits, wie es nicht geht:

 

Kein Problem kann mit denselben Denkweisen gelöst werden, durch die es entstanden ist.

  

   Natürlich sind es auch noch andere Zwänge, die uns diese Probleme bereiten. Der Drang zur größtmöglichen Gewinnoptimierung als Schmiermittel der allmächtigen „Märkte“ und die daraus resultierenden Zwänge zu Rationalisierungen und Verlagerungen in niedriger entlohnte Arbeitsverhältnisse treiben sowohl Staatsfinanzen wie Sozialkassen von Krise zu Krise. Die Bedienung wuchernder Schuldenberge hat längst ihre Eigendynamik verselbständigt. Das voraussichtliche Ende dieses Horrorszenarios macht Angst. Waren es nicht Philosophen und Psychologen, die Gier und Angst als die Antriebskräfte identifizierten, auf die alle anderen zurückzuführen sind? Der Prozess ist bereits weiter fortgeschritten, als dies in der öffentlichen Wahrnehmung zum Ausdruck kommt. Bereits ein ganz erheblicher Teil der Bevölkerung spürt das aufkommende Unbehagen und nährt Zukunftsängste, wie dies eine Nachricht vom 08.11.2011 verdeutlicht:

 

   84 Prozent der Bürger sehen einer Umfrage der Arbeiterwohlfahrt zufolge den Zusam-menhalt in der Gesellschaft schwinden. Nur 13 Prozent glauben, dass die Gemeinschaft in den kommenden fünf Jahren solidarischer werden wird. Das Vertrauen der Bürger „in die soziale Gestaltungskraft von Politik und Gesellschaft ist scheinbar verloren gegangen“, sagte der Verbandsvorsitzende Wolfgang Stadler am Montag in Berlin. Angesichts der unsozialen Politik der vergangenen Jahre befürchteten sie „eine ungerechte Lastenverteilung“, so Stadler.

 

   Die Politik sei gewarnt. Man kann auf Dauer nicht ein ganzes Volk für dumm verkaufen. Der rasant zunehmende Vertrauensverlust wird nicht ohne Folgen bleiben.

   Obstat principes! möchte man den Politikern in aller Welt zurufen, wohl wissend, dass der angezeigte selbstmörderische Prozess bereits unumkehrbar fortschreitet.