Im Märchenland

 Dana Guerrieri

 

  Was sind wir doch für tolle Bürger und Zeitgenossen! „Total super“ würde man im zeitgemäßen Jugendjargon sagen. Und so tugendhaft noch dazu. Bestätigt hat uns das unser verehrter Herr Bundespräsident bei seinem traditionellen Neujahrsempfang, der dort die Offenheit der Deutschen gegenüber dem Flüchtlingszuzug eindruclsvoll würdigte, was uns zu einem noch nie so guten Deutschlandbild in der Welt verholfen hat. Korrekterweise müsste es eigentlich heißen „verholfen haben soll“.

  „Deutschland, das vor einem Menschenalter Krieg und Gewalt über ganz Europa brachte, ist heute ein Hoffnungsort für ungezählte Menschen“, so das veröffentlichte Zitat. Wie schön. Doch woher die flankierende Beklemmung beim Lesen dieser Frohbotschaft? Das Rauschen im Blätterwald verkündet Gründe für eine etwas andere Sichtweise.

  Ein Innenminister erklärt nach dem Eklat um das Kölner Silvestertreiben, dass es nun darum gehen müsse, verlorenes Vertrauen des Wahlbürgertums in die Handlungsfähigkeit der Schutzpolizei wieder herzustellen. Das muss demzufolge verloren gegangen sein. Daneben ein Artikel über die jetzt ans Licht gekommenen Misshandlungen bei den Regensburger Domspatzen, die über vier Jahrzehnte in etwa siebenhundert Fällen - angeblich unbemerkt von der verantwortlichen Chefetage - seither im Verborgenen blieben und nunmehr mit Geld der Kirche(?) irgendwie entschädigt werden sollen. Hierzu passt die beklagenswerte „Gedrückte Klausurstimmung“ der CSU-Landes-gruppe, wie die Veröffentlichung über das traditionelle Treffen im Wildbad zu berichten weiß. „Die Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht haben die sehr schwierige Lage noch verschlimmert: Wenn Bürger das Gefühl haben, im eigenen Land nicht mehr sicher zu sein, rührt das am Markenkern von CDU und CSU, an dem von ihnen gepflegten Image, die Parteien der inneren Sicherheit zu sein.“

  „Ein Desaster“, heißt es im Wildbad. „Dass die von der Kanzlerin geforderte europäische Lösung der Flüchtlingskrise schnell zustande kommt, glaubt hier kaum einer.“ Soweit die Einschätzung. Bemerkenswert: Alle die erwähnten Artikel stehen auf ein und derselben Seite einer Lokalzeitung!

  Was ist los im gelobten Lande der Dichter und Denker? Auch die Lokalpresse schwimmt mit im populistischen Sog des medialen Mainstream. Lästerzungen reden vom neuen „Moralimperialismus“. Weiter.

  Nach „ausführlicher Prüfung“ untersagt die Bamberger Stadtverwaltung aus Sicherheitsbedenken die angemeldete Demonstration einer „rechtsextremen“ Partei gegen „Überfremdung in Franken“, die mit der Befürchtung gewalt-tätiger Konfrontationen mit Andersdenkenden begründet wird. Grundrecht hin oder her, diese Argumentation rechtfertigt den Beschluss, das demokratische Recht auf Versammlungsfreiheit dann einschränken zu dürfen, wenn es nach Gutdünken der amtlichen Entscheidungsträger sicherheitsrelevant geboten erscheint. Mit der demokratischen Legitimation selbst tiefgreifender Regierungsbeschlüsse nimmt man es ohnehin nicht mehr so genau. Hochkonjunktur für Staatsrechtler, Verfassungsrichter und Fachjuristen aller Provenienzen. Die sich daraus ergebende Konsequenz erschreckt. Der Vertrauensverlust der Staatsorgane in die Urteilsfähigkeit seiner Wählerschaft geht einhand mit dem der Bürgerschaft in das verantwortungsbewusste Handlungsvermögen seiner Mandatsträger.

  Krieg der Wörter. Sinnentleerte Phrasen. Pauschalierungen. Generalver-dacht. Ausländerfeindlich. Neonazi. Populistisch. Extremistisch. Gutmensch. Dabei die zugehörigen „Aktionsgruppen“, „Bündnisse gegen...“. Hetze. Es ist wohlfeil geworden, Verunglimpfungen aller Art und Finesse unkritisch, unkri-tisiert und anonym zu veröffentlichen, vorauseilend zuzuordnen und nicht Übereinstimmendes zu vertuschen, wenn es nur im erwarteten Modus vonstatten geht. Übertrieben?

  Eine selbsternannte „Aktionsgruppe gegen Nazis“ (löblich!) macht „Klar Schiff“: Kindliche Figuren mit Bärten, Sonnenbrillen und Antifa-Symbolen skandieren ihre Parolen in Großbuchstaben im Lokalblatt: NAZIS VON DER STRAßE FEGEN - DEMO GEGEN NAZITERROR UND RECHTE STRUKTUREN. Martialisches Gehabe. Der Leser konstatiert, dass wir von Nazis mit Terror bedroht werden. Auch das noch! Ich habe das ungute Gefühl, dass kaum einer der achtbaren Aktivisten in der Lage ist, die angeprangerten Strukturen auch nur nachvollziehbar darzustellen. Könnte es einer dennoch, überzeugend und sachlich fassbar, wäre auf der Stelle die Staatsanwaltschaft gefordert. Konkreter dagegen und zunehmend beunruhigender ist angesichts überforderter Bundesbehörden der unstrittige Vertrauens-verlust der Bürger in die staatliche Handlungsfähigkeit mit den unabsehbaren Folgen.

  Der seit der Enthebung der übermächtigen Propagandaapparate des Dritten Reiches unseligen Angedenkens unbrauchbar gewordene Terminus „Hetze“ findet auf unrühmliche Weise wieder Eingang in das politische Vokabular. In diesem Sinne angesprochene Formu-lierungen definiert das Deutsche Universal Wörterbuch als unsachliche, gehässige, verleum-derische, verunglimpfende Äußerungen und Handlungen, die Hassgefühle, feindliche Stimmungen und Emotionen gegen jemanden erzeugen oder betreiben.

  Es ist die armseligste Reaktion auf missliebige und verstandesmäßig unkon-trollierbar zu werden drohende Situationen, zu deren Bewältigung den tonangebenden Machtordnungen keine adäqate Entgegnung mehr zur Verfügung steht. Ein Rückblick in die Historie bestätigt die zeitlose Popularität dieser Verfahrensweise, die sich der Signatur „Hetze“ zuordnen lässt. 

  Doch wo beginnen? Dem Untergang von Homers Troja? Ich erinnere mich noch - dank meines Geschichtslehrers - an einen, dem römischen Staatsmann Cato Censorius (234 v. Chr.; † 149 v. Chr.) zugeschriebenen Ausspruch: Ceterum autem censeo Carthaginem esse delendam (lateinisch für: ‘Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss‘), mit dem der legendäre Redekünstler jede seiner Ansprachen zu beenden pflegte. Mit Erfolg. 150 v. Chr. wurde das Zentrum einer konkurrierenden Weltmacht dem Erdboden gleichgemacht.

  Christenverfolgungen des späten Altertums, inhumane „Christianisierungen“ des frühen Mittelalters, barbarische Kreuzzüge, Religionskriege ohne Ende, Sklavenhandel, Gegenreformation, Inquisition, Hexenwahn, Judenprogrome hindurch die Weltgeschichte, Bartholomäusnacht, Kolonialismus, Rassenwahn und Lebensraumideologie, „Säuberungen“, Völkermorde, Shoa, McCarthyism und jetzt die sich radikalisierende Militanz divergierender Heilslehren, die ihre Hegemonialansprüche an den extremen Randbereichen der Politikszenerie zum Leidwesen des gesetzlichen „Volkssouveräns“ austoben und dazu bereit sind, Recht und Gesetz der moralisierenden Beliebigkeit zu opfern. Es wird schief gehen. Wie immer. So wie uns die Geschichte gelehrt hat, dass sie uns nichts lehrt. Und danach beginnt wieder die unvermeidliche Suche nach dem „Sündenbock“.

  Bis dahin wird sich jede noch verbliebene kritische Unverzagtheit mit den Diffamierungen einer auf fundamentalen Antirassismus festgelegten, linksorientierten Publizität auseinandersetzen müssen.

                                                                                                             18. Januar 2016