Götterfunken

 

 

  Mit zunehmendem Alter verändern sich zwangsläufig Wertigkeit und Verwertbarkeit von Nachrichten. Über den, an relevan-ten Informationen interessierten Zeitgenossen, ergießt sich neben - meist vertagtem - Hauptsächlichem ein Sammelsurium hauptsächlicher Nebensächlichkeiten und Wiederholungen, teils als mehr oder weniger gesteuertes Ablenkungsmanöver, teils als subventioniertes Füllmaterial, mitunter verpackt als Interpre-tationsmechanismus wackliger Hypothesen oder als Assoziationsstandpauken herablassender Besserwisser. Die wirklich bewegenden Zeitthemen, die nicht zu umgehende Antworten verangen, werden mit dem Risiko des Widerspruchs und des konsensabhängigem Scheiterns vorsichtshalber dem öffentlichen Wachzustand weitgehend ferngehalten und in Randzonen verdrängt, die dem ahnungslosen Normalbürger so gut wie unzugänglich, zu fordernd und auch allzuoft „wurscht“ sind.

 

  Belastender Datenmüll verstopft den nach Klarheit suchenden Intellekt und verlangt nach Wahlmöglichkeiten. In selbst-schützerischer Notwehr verweigert er sich zunehmend dem Irrelevanten, Überflüssigen und Banalen. Doch auch im tendenziös aufbereiteten Rest findet sich danach immer noch allzuviel, was in seiner Substanz jeglicher Vernunft Hohn sprechen müsste. Man versucht, meist erfolglos, auch diese Klippen zu umschiffen – und ärgert sich. Es ist nun einmal da, alles das! Schlimmer noch: Die Trash-Flut verzichtbarer Hohlkultur erweist sich als als geradezu unzerstörbar.

 

 

 

  „Unser Leben ist besser, aber gut ist es nicht.“ Es ist das Pressezitat einer 55jährigen Moldawierin, die aus den erlebten Umgestaltungen in ihrem Land hin zu einer freiheitlicheren Gesellschaftsordnung für sich kaum eine Verbesserung, geschweige denn einen Neubeginn zu erkennen vermag. Man resumiert: Jede Veränderung hat ihre Gewinner und Verlierer. Das liegt in der Natur der Sache, ebenso gewiss wie die hehre Freiheit ihren Preis hat. Eine Binsenweisheit - genauso wie das immerwährende Ringen um einen größeren oder kleineren Anteil niemals enden wird.

 

Der Geschäftigkeitsdrang rund um die Jubiläumsfeierlichkeiten des Berliner Mauerfalls 1989 erweist sich als lohnende Fund-grube für Chronisten eines entfesselten Emotionsjournalismus. Ursachen, Folgen und persönliche Befindlichkeiten und Erinnerungen fanden gebührende Aufmerksamkeit in allerlei Reflektionen über und um jenes „denkwürdige Ereignis“ unserer jüngsten Geschichte. Auch Absonderliches war da zu verneh-men. Man griff hoch. Beethovens Neunte mit Schillers Ode an die Freude war als apotheistisches Glanzlicht gerade gut genug und musste – wieder einmal – eine Umdichtung über sich ergehen lassen. Nein, „Freude, schöner Götterfunken“ war dafür wohl etwas zu blass. Aber dafür „Freiheit, schöner Götterfunken...“

 

  Ich vermag hier keinen rechten Sinngehalt zu erkennen. Anders gefragt: Was hatte man denn an jener „Freude“ über die neu gewonnene Freiheit auszusetzen?

 

 Ob Parteitage, Papstauftritte, Faschingsumzüge oder Rockevents: Gründe für das „Feiern an sich“ im öffentlichen Raum wird es immer geben, ob als spontane oder gesteuerte Aktion. Übermütige Begeisterung

der Massen entwickelte schon immer eine besondere Beseligung unter den Anhängern, unabhängig vom eigentlichen Anlass. Da begeben sich auch Tausende auf die Straße, um gegen Salafisten oder Nazis zu demonstrieren. Für eine bessere Welt oder als medienwirksames Beiwerk eines Fußballspiels, um Siege zu bejubeln oder auch Agressionen publikumswirksam zu zelebrieren. Wenn man denn will, alles „Gedenktage“.

 

  FREIHEIT - Machtwort und monumentales Zitat. Goethe fand allein den Klang dieses Wortes so schön, dass man dessen selbst dann nicht entbehren könne, wenn es einen Irrtum bezeichnet. Irrtum? Tatsächlich gibt es bis dato, außer einer Unzahl von unterschiedlichsten Aphorismen, zum Thema keine verbindliche Definition von Freiheit. Nicht einmal eine wirklich gute. Doch egal. Der Mensch will frei sein! Irgendwie. Und feiern.

 

  Was mag es sein, das der Götterfunke außer Feierlaune da noch befeuert, wenn Tausende unter dem Banner der Freiheit auf die Straße gehen?

 

  Freiheit, eine der missverständlichsten Abstraktionen überhaupt. Ein Überbegriff, der allein durch Nennung allen würdigen Anlässen eine gewisse Noblesse verleiht und immer und überall ob seiner sinnlichen Konnotationen des allgemeinen Beifalls gewiss sein darf. Und das, ohne sich dabei näher erklären oder gar irgendeine Form von Verbindlichkeit eingehen zu müssen. Also doch nur Floskel, Füllwort, offiziöser Phrasendrusch? Dabei wird nichts über die unterschiedlichen Lebensqualitäten von Betroffenen mit oder ohne Freiheit ausgesagt. Ist „die Freiheit“ überhaupt objektiv, oder nur subjektiv orientiert etikettierbar?

 

  Wie würde sich ein Mensch vor der Wahl, glücklich und unfrei oder frei und unglücklich zu sein, entscheiden? Was versteht er überhaupt darunter, „frei“ zu sein? Gibt es eine pauschalisierte Freiheit überhaupt? Vielleicht geht die Frage wirklich zu weit; schließlich wurde sie noch nie zur allgemeinen Zufriedenheit beantwortet. Übrig bleibt der schale Gedanke, dass der Mensch halt seine Aufreger wie auch seine Jubelfeiern braucht, um von all seinen vielen ungelösten Problemen abgelenkt zu werden, als Eskapismus mit raumgreifend gesteuerter Assistenz.

 

  Ein weniger dem Pathos geneigter Beobachter der eingangs erwähnten Ereignisse könnte den begründeten Verdacht hegen, dass es sich bei dem zitierten Geschehnis vorrangig um schlichte Reisefreiheit handelte, die da gebührlich gefeiert wurde. Ich erinnere mich dabei an ein Bonmot aus der Antike, nämlich dass dir das Reisen im Grunde wenig nützt, weil du dich ja bei jeder Reise selbst mitschleppen musst. Doch zurück zur gelobten Freiheit.

 

  Zumindest die Gedanken, so sagt und singt man – sie waren schon immer frei. Tatsächlich? Jedenfalls nicht in der religiösen Welt: hier kennt ja Gott selbstverständlich auch deine geheimsten Verirrungen. Ich erinnere mich an meinen Kommunion-unterricht – damals war ich gerade mal neun – als ich darüber informiert wurde, dass man ja auch in Gedanken sündigen und damit straffällig werden könne. Also Vorsicht, was du da gerade denken willst. Gott denkt mit! Armes Menschlein...

 

 FREIHEIT! Auch einer der missverstandensten Axiome überhaupt, hat vor repressivem Hintergrund mit all seinen Helden und Märtyrern alleweil Hochkonjunktur. Wenig Wert-schätzung erheischt in der Praxis eine geschenkte Freiheit; wer hingegen für Freiheit kämpft, erhält im Erfolgsfall dafür doch nur neue, andere Herren. So geistert denn eine idealisierte, verschwommmene Chimäre als populistische Wunderdroge durch die Weltgeschichte und treibt ihre Gestrauchelten und Betrogenen in ihrer Misere vor sich her.

 

  Freiheit wofür? Freiheit wovon? Der Ruf nach Freiheit, als unsterblicher Motivationsschub, demaskiert sich in seinen individualistischen und dem Zeitgeist verschriebenen Visionen. Freiheit, die ich meine? Seit unvordenklichen Zeiten in der Historie herumspukend, erhebt sie sich fordernd in all ihren begrenzten Lesarten; nicht als Naturgesetz oder gar als „göttliches“ Dekret. Im unvermeidlichen Gerangel um die besseren Positionen obsiegt immer die „stärkere“ Partei, die konsequent ihre Privilegien auf Kosten der unterlegenen ausbaut und sichert. Dem Ruf nach Freiheit geht immer eine eklatante Verletzung derselben voraus, was im Kant'schen kategorischen Imperativ (Was du nicht willst, das man dir tu...) zwar seit jeher als anerkannter Verhaltenskodex unumstritten, durch verschleiertes Umgehen jedoch als sportliche und gesellschaftliche Herausforderung immer wieder fröhliche Urständ feiert und sogar im Erfolgsfall mit allgemeiner Achtung - nicht Ächtung! - belohnt wird.

 

 Am „Katzentisch“ des ethischen Gutmenschentums: Die persönliche Freiheit  als Herrschaft der Vernunft in der Abwesenheit von Begierden und Leidenschaften.

 

  Es mag trösten, dass es auch kluge Menschen gibt, deren Denken und Streben sich nicht ausschließlich dem Wohlergehen des Ego widmet - immerhin. Sinnsuche nennt man das dann. Ganz eigenständig betreibt diese im Grunde jeder, unabhängig von Intelligenz, Status, Ehrgeiz, intellektueller Ausrichtung – und der Qualität der jeweiligen Zielvorstellung, leider aber nicht immer im altruistischen Sinne. Der wahre  Sinnsuchende schürft tiefer, hofft den  Sinn irgendwo entdecken zu können. Nicht wenige sind davon sogar überzeugt, ihn gefunden zu haben und wundern sich, wenn ihnen zahllose Zeitgenossen verständnislos trotzdem die Gefolgschaft verweigern, ja gegensteuern. Die erhoffte Anhängerschaft sammelt sich dann nicht selten in anderen, vornehmlich primitiveren Sphären, schreibt mitunter Weltgeschichte und treibt die entgeisterte Menschheit in neue Alpträume der Intoleranz, ins Chaos, in die Agonie. Nachtmährische Szenarien entstehen so, aber auch tatsächlich gelebte Wirklichkeiten! Provozierendde Frage: Wer hat sich dies alles, wer sich etwa gar uns selbst ausgedacht?

 

  Religion als Christbaum der Einfältigen.

 

   Man ahnt in Abfolge, wie alles das als töricht zu bewerten sein müsste, was bisher über die Zeiten hinweg gedacht, geschrieben und getan wurde, wenn immer wieder neu inszenierte Formen der Selbstzerfleischung möglich bleiben und auch stattfinden. Es ließe die schmerzliche Schlussfolgerung zu, dass weder Philosophie noch Aufklärung, viel weniger noch Religion etwas zum besseren hin bewirken und das zwingende Finitum naheliegt, dass die Weltgeschichte das Werk von Verrückten sein muss, wie das der Dichter Gottfried Benn deduzierte.

 

  Freunden wir uns also mit der Freud'schen Erkenntnis an, dass beileibe nicht alle Menschen grundsätzlich liebenswert sind. Wie auch damit, dass die Wirklichkeit hinter den gewohnten Kulissen eine andere ist, als die, die wir uns so gerne einreden lassen - oder selbst schönreden, wenngleich wir es alle schon immer besser wussten oder zumindest geahnt hatten. Ist aus dieser Sicht die Entwicklung des alternden Menschen hin zum Misanthropen überhaupt vermeidbar? Die Frage erscheint berechtigt. Es muss sich ein jeder diese Frage selbst beant-worten, spätestens wenn er einmal zu der Einsicht gelangen sollte, dass positives  Denken dem Gegenteil von Denken gleichzusetzen wäre.

 

  Die Flamme des Prometheus: Was hat sie einer überforderten Menschheit gebracht, außer der Hoffnung, dass sich der Evolutionsprozess von der animalischen Kreatur zur vernunftorientierten Selbstbestimmung allenfalls in einem kritischen Zwischenstadium befindet? Kritisch, weil das Potenzial zur physischen Selbstvernichtung sehr viel früher realisiert werden konnte – weil einfacher – als die Regeln für eine zukunftsorientierte, solidarische Verantwortlichkeit gegenüber der gesamten „Schöpfung“. Mit Visionen aus prähistorischen Urzeiten strapazieren stattdessen in ihren egozentrischen Vorstellungswelten befangene Geister ungeniert das globale Zusammenleben bis an die Grenze des Erträglichen - und darüber hinaus.

 

                                      Doch Freunde, nicht diese Töne! Sondern

                                         lasst uns freudenvollere anstimmen!

 

 Schillers Ode an die Freude: Ein Aufbäumen gegen die Trostlosigkeit menschlicher Inkonsequenz? Eine glitzernde Eisblume am Fenster in kalter Winternacht: Was schert mich noch das Lachen über den Träumer, der da noch Blumen im Winter sieht? Wäre das nicht die bedingungslose Kapitulation des Geistes vor dieser hybriden Welt, sich ihren anmaßenden Spielregeln und grotesken Verheißungen widerspruchslos zu unterwerfen? Es ist der fast verzweifelte Zwangsoptimismus eines Martin Luther, der noch am Vorabend des „Jüngsten Tages“ ein Apfelbäumchen pflanzen wollte:

 

  Der Triumph menschlicher Größe über göttliche Armseligkeit.

updated 7. Oktober 2016