Reise ins Blaue

 

 

  Es geschah an einem Dienstag. Tags darauf war es im Internet und den Zeitungen zu lesen. Die Nachricht hatte das Zeug dazu, etwas bisher als gesichert Geltendes so ganz ungeniert in Frage zu stellen. Dabei war das Thema bereits seit zehn Jahren in der Wissenschaft hin und her diskutiert worden. Aber jetzt wurde es durch eine Verleihung des Nobelpreises für Physik weltweit publik und auch für die Massenmedien plötzlich interessant. Unter anderem.

  Da taucht sie auf einmal aus dem buchstäblichen Nichts auf und wirft alle bisherigen Gewissheiten über den weltanschaulichen Haufen: die neue „kosmologische Konstante“. Ein Etwas, von dem heute noch kein Mensch sagen kann, worum es sich dabei eigentlich handelt. Nur soviel scheint sicher, dass da eine „dunkle Energie“ existiert, weil sie – wissenschaftlich nunmehr nachweisbar – der Gravitationskraft entgegenwirkt.

  Einstein hatte sie seinerzeit noch irgendwie erahnt, sie aber für so fragwürdig erachtet, dass er den Gedanken nicht weiter verfolgte. Man kann verstehen, dass auch ein revolutionärer Forschergeist davor zurückschreckt, mit einer Theorie aufzuwarten, die das gesamte, mühsam erarbeitete Vorstellungspanorama des Weltgefüges wieder in Frage gestellt hätte. Vom Hohn und Spott der Nichtüberzeugten ganz zu schweigen. Doch nun war es trotzdem geschehen.

  Die Vorstellung, dass einer jeden Kraft eine Gegenkraft gegenübersteht, scheint aus Gründen der Symmetrie und der Balance ja keineswegs abwegig. Druck erzeugt Gegendruck, das ist einleuchtend. Die neu gewonnene Erkenntnis der Spitzenforschung entstand aus der Gegebenheit heraus, dass sich das Universum nach dem Urknall vor 13,7 Milliarden Erdenjahren kontinuierlich ausdehnt, und zwar nicht mit verlangsamender Tendenz, wie das die Gravitationslehre erfordert, sondern im Gegenteil beschleunigend. Es findet also demnach kein Umkehrprozess statt, sondern das gesamte Universum driftet für alle Zeiten ab in die Unendlichkeit von Raum und Zeit und verliert sich selbst in ewiger Einsamkeit. Irgendwo. Ein Gedanke, an den man sich erst gewöhnen muss. Bisher galt die landläufige Theorie, dass die explosionsartige Ausdehnung des Kosmos irgendwann zum Stillstand kommt und sich der ganze Prozess infolge der Gravitation umkehrt und alles zum Ausgangspunkt zurückfindet, so wie ein in die Luft geworfener Tennisball dank der Schwerkraft wieder zurück auf die Erde fällt. Danach könnte alles wieder von neuem beginnen. Die Frage, wie oft dies alles sich bisher schon wiederholt haben könnte, ist damit vom Tisch. Die Entstehung des Kosmos ist also nun als einmaliger Vorgang zu betrachten. Oder etwa doch nicht?

  Nun, so ganz unlogisch scheint die neue Erkenntnis bei näherer Betrachtung nicht zu sein, denn erstens wäre sie dann nicht erfassbar und zweitens hätte der Urknall mit der Gravitation als einziger Kraft wohl nicht stattfinden können. Da musste wohl noch etwas anderes seine Hand im Spiel gehabt haben.

  Die nunmehr drängendste aller Fragen, was es mit dieser „dunklen Energie“ auf sich hat, bleibt vorerst unbeantwortet und damit wieder alles offen. Immerhin weiß man schon, dass rund 70% des gesamten Universums daraus bestehen soll, zusammen mit der ebenfalls rätselhaften „dunklen Materie“ kommt man gar auf 95%! Bleiben also für die uns derzeit zugängliche Welt ganze 5% vom Kuchen. Alles andere ist uns noch unbekannt.

  Doch auch andere Entdeckungen ließen aufhorchen. Demnach sollen Neutrinos höhere Geschwindigkeiten erreichen können als das Licht, was bisher als absolute Größe in der Physik galt. Noch ist Skepsis angesagt, würde doch diese Entdeckung die Einsteinsche Relativitätstheorie ebenfalls relativieren und ein als bisher unabänderlich geglaubtes Naturgesetz aus den Angeln heben. Doch auch eine zweite Messung mit verbesserten Methoden schienen die Sensation zu bestätigen. Ist das scheinbar Unmögliche dennoch möglich? Da die Teilchen im September 2011 nur um 0,025 Promille „zu schnell“ unterwegs waren, empfahlen sich weitere Überprüfungen und unabhängige Experimente. Dann endlich die erlösende Entwarnung. Messfehler! Das Licht bleibt schneller! Auch Kristallstrukturen, die bislang als unmöglich galten, haben uns inzwischen nach-weislich eines Besseren belehrt. Es bleibt spannend. Und alles weiter im Fluss.

   Man darf sich darüber einig sein, dass es immer wieder kritikwürdige Zustände auf der Welt gab und geben wird. Und dies trotz - oder gerade wegen - aller visionären Gesellschaftsentwürfe, die seit Olims Zeiten dringenden Handlungsbedarf anmahnen.

 

Die Erde ist ein wundervoller Ort, aber das könnte nicht immer so bleiben.

Früher oder später müssen wir zu den Sternen schauen.

Stephen Hawking

 

 Warnende Stimme einer personifizierten Ikone der Vernunft? Eindringlich warnt der britische Physiker Stephen Hawking, Jahrgang 1942, seine Mitmenschen vor einem selbst verschuldeten Untergang. Ein Atomkrieg, eine ungebremst fortschreitende Erderwärmung, durch Gentechnik erzeugte Viren und weitere Entwicklungen von Wissenschaft und Technologie beschreiben nach seiner Meinung existenzielle Gefahren, die uns bedrohen können. Alles nur heiße Luft? Beschwichtigende Herablassung institutioneller Heilsverkünder?

  Das Risiko einer Katastrophe auf unserem Planeten in einem bestimmten Jahr sei zwar gering, aber für die nächsten tausend oder zehntausend Jahre „beinahe Gewissheit“, so der Wissenschaftler, der auch immer wieder vor den Gefahren künstlicher Intelligenz gewarnt hat. Maschinen können eines Tages klüger werden als ihre Schöpfer und eine Gefahr für den Fortbestand der Menschen darstellen.

  Auch Biologen mahnen schon lange, dass die Menschheit ihren eigenen Untergang herbeiführen könnte. Der Hintergrund: Jeder denke vor allem an sich selbst zuerst, vielleicht noch an die Zukunft der Kinder oder allerhöchstens noch an die der Enkel. Wir sind darauf programmiert, von Hause aus auf unsere individuellen Interessen zu achten - und nicht auf die Zukunft der Menschheit.

Seit Jules Vernes’ Zeiten haben sich unsere Erkenntnisse über Beschaffenheit und Gefüge des Universums immer weiter vervollständigt und damit auch der Machbarkeit von Visionen neuen Auftrieb beschert. Weniger euphemistisch bleibt hingegen das historisch begründete Misstrauen gegen ein friedfertiges Miteinander auf unserem gastlichen Heimatplaneten.

  Initiative Breakthrough Starshot!  Eine neu geschmiedete Allianz von Wissenschaft und Kapital ergreift die Initiative zu einer spektakulären Mission, mit dem Ziel, tiefer ins All vorzudringen als jemals zuvor. Mit zukunftsnaher und bereits zur Verfügung stehender Technik wird eine ganze Armee mit Mikrosegeln ausge-rüsteter Raumschiffe im Briefmarkenformat mit 20%iger Lichtgeschwindigkeit durchs Universun Richtung Alpha Centauri rasen, um dort Erkundungen für ein menschenerträgliches Asyl zu erkunden. Der Vorteil beeindruckt; die vier Lichtjahre entfernte Doppelsternkonstellation wäre mit unserer heute verfügbaren Technik in rund

30 000 Jahren zu erreichen. Zumindest der Informationsfluss zur Vorausplanung ließe sich damit auf ein tolerables Maß reduzieren. Das ermöglichtt interessante neue Utopien für Zukunftsforscher und Romanautoren. Man stelle sich vor: Eine ausgesuchte menschliche Modellgesellschaft begibt sich innerhalb eines abgeschotteten Systems auf eine einige zehntausend Jahre dauernde Reise in eine unbekannte Welt, auf einen Weg ohne bestimmtes Ziel und ohne Wiederkehr. Die Frage sei erlaubt: Wozu?

  Angesichts unserer notorischen Unfähigkeit zur Integration, selbst im kleinsten und intimsten Umfeld, ein aberwitziges Unternehmen. Kolonisierung fremder Welten durch den Export gescheiterter Egomanen? Noch immer wartet die Menschheit auf eine praktikable Anleitung für den Einzug ins klassische Elysium. Es dünkt mir heute müßig, allein schon über die Wahrscheinlichkeit nachzusinnen, ob sich eine angedachte Operation Breakthrough Starshot nach unabwägbaren Zeitverläufen wieder einmal als weiterer „Schuss in den Ofen“ herausstellen wird. Vielleicht sucht man ja nur am falschen Ort und die Lösung des Problems liegt ganz woanders...

   Als ich eines nachts nach der Niederschrift dieser Zeilen darüber nachsinne, kommt mir völlig unvermittels ein Kindergedicht zurück ins Gedächtnis. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mir über die Herkunft dieser Erinnerung einen Reim machen konnte. Seltsamerweise war der Text in englischer Sprache. Auch die schöne kleine Melodie war wieder zurück gekehrt. Die Erinnerung reichte zurück in meine Kinderzeit, als ich wohl um die zehn Jahre alt war und die Gelegenheiten zu häufigen Kontakten mit Kindern amerikanischer Besatzungsoffiziere und ihrer Freizeiteinrichtungen gerne nutzte. Aber jetzt war es wieder da, Text und Melodie, obwohl ich es niemals aufgeschrieben hatte! Kurios.

  Ich war berührt. Und auch demütig. Da gibt es also doch eine menschliche Beträchtlichkeit unter unserem Sternenzelt, mit oder ohne dem gütigen Allvater, der dort oben thronen mag, sofern er das denn so möchte. Glücklich über dies späte Wiederentdecken, beschloss ich, es aufzuschreiben und in mein „geliebtes Deutsch“ zu übertragen, ganz so wie der alte Doktor Faust.

 

 Twinkle, twinkle little star,                 Funkle, funkle kleiner Stern,

      How I wonder what you are;           Was du bist, ich wüsst es gern;

       Up above the world so high,             Hoch droben über unsrer Welt

    Like a diamond in the sky.                Als Diamant am Himmelszelt.

 

   When the blazing sun is gone,          Wenn die grelle Sonne dann,

             When he nothing shines upon,          Nichts mehr da bescheinen kann,

      Then you show your little light:         Über uns dein Lichtlein wacht.

         Twinkle, twinkle all the night.              Funkle, funkle durch die Nacht.

 

updated  22. Oktober 2011