Gedränge im Wartesaal

 

   Es stellt sich vornehmlich in der Nacht ein, wenn man nicht einschlafen kann. Dann kommt wieder dieses Gefühl auf von einer verdrängten, beklemmenden Einsamkeit, die immer bedrohlicher zu werden scheint, je mehr man sich auf sie einlässt. Sie lastet dann auf dem Gemüt wie die dunkle Vorahnung eines schwächer und schwächer werdenden Lichtes, bevor es endgültig verglimmt. Die natürliche Gegenreaktion erfolgt nahezu unbewusst und panikartig mit der Flucht in andere Gedankenwelten.

  Der nachdenklich veranlagte Mensch widersteht zunächst der Versuchung, das Hasenpanier zu ergreifen; mehr aus Neugier auf unbekanntes Neuland, denn aus Angst vor depressiven Anwandlungen. Also lähmendes Verharren in latenter Todesangst wie beim Erstarren des Beutetiers unter dem hypnotisierenden Blick der Schlange? Oder willenlos genötigt von jener mysteriösen Todessehnsucht? Wie existiert denn ein Mensch wirklich in seinem Alleinsein trotz Lebenspartner, Familie, Freunden, Kollegen usw., auf die er sich berufen kann? Nein, hier sei nicht die Rede von der erotischen Liebe, die bedingt in ihrer Endlichkeit im Alleingang auf perfekte Weise den Gegensatz von Egoismus und Altruismus für die Dauer intensiver Leidenschaft aufzulösen vermag.

  Kann aber der einzelne Mensch überhaupt, ganz alleine mit sich selbst, bewusst „leben“ im besten Sinne, oder ist das ein ausschließliches Privileg Gottes? Offenbar kann auch der das nicht, mischt er sich doch nachhaltig in die Angelegenheiten seiner Kreaturen ein und will sie – glaubt man seinen zahllosen Anwälten und Wegbereitern – partout auf den „rechten Weg“ führen. Einsamkeit, wie bist du überbevölkert!

  Dem hierüber Grübelnden tritt alsbald deutlich vor Augen, dass die Nähe zu einem anderen Einzelwesen weitgehend davon abhängig ist, wie vertraut man miteinander sein kann, wie kenntnisreich die Einblicke in die intimsten Befindlichkeiten und Erfahrungen erlebter Verbundenheit sein müssten. Und wie groß die Bereitschaft, alles dies miteinander zu teilen. Ein geradezu unzumutbarer, utopischer Anspruch! Die wahrhaf-tigste Wahrnehmung vom eigenen „Ich“ kann mit einem anderen Individuum niemals vollkommen geteilt werden, sintemalen dieses selbst seiner eigenen fortschreitenden Evolution unterworfen bleibt.

  Sich also bescheiden abfinden? Ganz so einfach ist es demnach auch nicht, im eigenen Verständnis den wahren Kern der gefühlten Einsamkeit recht zu deuten, um danach jene Akzeptanz herstellen zu können, die den fragenden Geist wieder mit sich selbst und der Welt versöhnt. Wie kann er die gerufenen Geister wieder loswerden?

  Es ist die Scham vor den eigenen Fehlleistungen, den unüberwindbaren Schwächen und Unzulänglichkeiten, die eine Vergemeinschaftung unterschiedlichster Charaktere verhindert, und überdies auch schon gar nicht im gemeinsamen Interesse liegen kann. Gerade die Anonymität bietet Schutz davor, angezweifelt, analysiert und unverstanden zu bleiben, ja womöglich verachtet und sich in die Randbezirke der menschlichen Gesellschaft abgedrängt wiederzufinden. Kein schöner Gedanke.

  Man sollte sich daran erinnern, dass ja der Sinngehalt der Einsamkeit keinesfalls nur negativ besetzt ist. Seit altersher galt die Einsamkeit als Schule der Weisheit. Wozu sich also vor ihr fürchten? Und was ist das eigentlich – Einsamkeit? Ist es nicht ein tiefer Blick ins innerste Selbst, in das meist sträflich vernachlässigte Ich? Besteht Grund zur Furcht im höchstpersönlichen Wartezimmer des Todes?

  Einsamkeit, so auch hier, ist weder gut noch schlecht. Es ist unser Verhältnis zu ihr, das unsere Einstellung und unser Werturteil prägt. So, wie wir eine Gesellschaft als gut oder schlecht bewerten, so verhält es sich auch mit der Einsamkeit. Unbestritten bleibt sie Obdach aller hervorragenden Geister und ebnet den Weg des Menschen zu sich selbst. Auf einer höheren Bewusstseinsebene angesiedelt, vermag sie allein, jedem Menschen und Grundgedanken Größe zu übertragen. Hier ist es, wo der Bejammernswerte seine ganze Kümmernis durchlebt, wo der außergewöhnliche Geist seine Größe entwickelt. Nur hier, in der Einsamkeit, ist der Einzelne er selbst, nur hier wirklich frei. Eigentlich ein Grund, die Einsamkeit zu lieben – vorausgesetzt natürlich, man mag sich.

  Ob man nun daraus eine Verpflichtung ableiten sollte, der Freiheit zuliebe die Einsamkeit zu suchen, scheint dem Fragesteller doch etwas zu akademisch und lebensfern. Man sollte wohl doch praktischerweise unterscheiden zwischen der Einsamkeit als ungewolltem Alleinsein und dem Alleinsein in gewollter Einsamkeit. Zum Denken empfiehlt sich zweifellos das Alleinsein, nicht jedoch zum Leben.

  Fazit: Wenn schon allein, dann bitte alleine allein. Sich einsam zu fühlen, duldet die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit allenfalls unter Gleichgesinnten. Hier darf man sich dann durch gegenseitige Anteilnahme in seiner Einsamkeit bestätigt fühlen.

  Zweifellos können in einem Zustand der Einsamkeit große Dinge bewegt werden und der Einzelne kann dort außerordentliche Erkenntnisse und Einblicke erwerben; in charakterlicher Hinsicht wird er sich hier hingegen kaum weiter entwickeln können. Bliebe noch die Frage, ob das einmal betretene Königreich der Einsamkeit auch bereit ist, seine Opfer wieder freizugeben? Eine quälende, offene Frage. Der Autor dieser Zeilen muss gestehen, dass er das selbst der Liebe nicht zutraut. Zumindest nicht nachhaltig.

 

  Ist Einsamkeit absolut? Mitunter gar alternativlos? Muss man sich mit ihr abfinden oder sie bewusst verdrängen? Grundsätzlich kann man der Abhilfe durch Verdrängen nicht viel Positives abgewinnen, obwohl diese Art der Problembewältigung sich in vielerlei Hinsicht auf allen möglichen Gebieten als entlastend bewährt hat. Also doch lieber abfinden? Weitere Betrachtung lässt deutlich erkennen, welche Positionen die verschiedenen Religionen in dieser Thematik besetzen. Das Gefühl, ein unmaßgebliches Nichts im Gefüge einer völlig unsentimentalen Natur zu sein, ist wohl für die allermeisten Menschen geradezu unerträglich. Das kann doch nicht sein – oder etwa doch?

 

Brüder, überm Sternenzelt muss ein güt’ger Vater wohnen!

 

  Die Worte Schillers aus seiner Ode an die Freude haben da doch etwas Tröstliches! Ein lieber Vater, der uns besser kennt und versteht als wir uns selbst: das Idealbild einer verständnisvollen Allmacht, die uns dazu noch liebt, die uns als „perfekte Entsprechung des jeweils anderen“ erlöst: genau das wär’s! Nie wieder einsam…

  Der Wunsch als sprichwörtlicher Vater des Gedankens. Allzu vordergründig erscheint dem Betrachter die Argumentation für eine esoterische Scheinwelt, die das Problem in eine eingleisige Einbahnstraße zu verlagern sucht, nur damit das aufgeschreckte Herz in diesem gefühlsneutralen Universum endlich seinen eigenen lieben Frieden finden möge. Dort indessen gelten leider alle Vortrefflichkeiten menschlicher Tugenden, Ideen und Visionen herzlich wenig. Wo sie uns in gedachten Rastphasen durchaus nützliche Dienste leisten können, bleiben sie auch als Sinnbilder fortschreitender Entwicklungen, die, in ihrer Vergänglichkeit beheimatet, auch deren Gesetzmäßigkeiten verfallen sind.

  Alles hat eben seinen Preis.

updated 10. August 2016